Vorenthaltung politischer und gewerkschaftlicher Rechte

Die SPD unter dem Sozialistengesetz

In den Augen vieler Arbeiter und Arbeiterinnen überschattet die Vorenthaltung politischer und gewerkschaftlicher Rechte bei weitem die vorsichtigen Anzeichen der staatlichen Bereitschaft zur Sozialreform. Und dennoch ist es gerade dieses Doppelgesicht, das die Entwicklung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, vor allem die Stellung zum Staat, nachhaltig prägt.

Die Erfahrung der politischen Verfolgung bereitet den Boden für die Aufnahme marxistischer Deutungsmuster der Realität: Die wirtschaftliche Depression gilt als Beleg für die Richtigkeit der These vom Niedergang des Kapitalismus und von der Verelendung der Arbeiterschaft. Die Unterdrückungsmaßnahmen bestätigen, dass der Staat ein Herrschaftsmittel der Besitzenden, ein Klassenstaat der Bourgeoisie, sei. Und die Ghetto-Situation der Arbeiterschaft begünstigt die Ausbildung einer eigenen radikalen Mentalität, der die Agitation der SPD Inhalt und Richtung zu geben versucht, um sie zum „Klassenbewusstsein” zu entwickeln.

Diese Ausgrenzung aus der bürgerlichen Gesellschaft zwingt die Sozialdemokratie in die politisch-programmatische Radikalität, die in der Anerkennung von marxistischer Gesellschaftsanalyse und Zukunftserwartung ihren Ausdruck findet und für die in der Partei insbesondere Karl Kautsky mit seiner theoretischen Zeitschrift „Die Neue Zeit” wirbt. Der Kampf gegen den kapitalistischen Klassenstaat der Gegenwart und die Vision der sozialistischen Zukunftsgesellschaft, die vor allem August Bebels Buch „Die Frau und der Sozialismus” (1879) populär macht, werden begierig aufgenommen. Doch die SPD bleibt – eben wegen der Zulassung der Parlamentsarbeit – eine demokratische Reformpartei. Das Parlament ist unter dem Sozialistengesetz das einzige legale Agitationsforum, die Reichstagsfraktion die eigentliche Parteiführung, und der Stimmzettel gilt als einziges Mittel zur Eroberung der politischen Macht.

Die Erfahrungen der Unterdrückung und vor allem der Erfolg bei den Reichstagswahlen 1890 bewirken, dass die schon aus den 1860er- und 70er Jahren bekannte Annahme verfestigt wird, der politische Kampf habe gegenüber dem gewerkschaftlichen den Vorrang. Außerdem stärken jene Jahre die Idee des Internationalismus. Das Erlebnis des Exils und die Kontakte zu den Sozialisten anderer Länder einerseits, die Einsicht in die Notwendigkeit international abgestimmten Vorgehens z. B. bei Streikbewegungen andererseits, beides trägt dazu bei, dass sich die deutsche Sozialdemokratie als Teil der internationalen Arbeiterbewegung versteht, die sich 1889 mit dem Internationalen Arbeiterkongress in Paris vor allem um die Forderung nach Einführung des Achtstundentags schart. Dass für dieses konkrete Ziel am 1. Mai jeden Jahres demonstriert werden soll, wird für die deutsche Arbeiterbewegung ein Problem, an dem sich die Geister in Partei und Gewerkschaftsbewegung scheiden.

Seiten dieses Artikels:

1871 - 1890

Nach dem deutsch-französischen Krieg: Arbeiterschaftsverband unter Druck
Das Sozialistengesetz und die Folgen: Die Verbotswelle rollt

Themen und Aspekte dieser Epoche:

Die SPD unter dem Sozialistengesetz
Streit um lokale oder zentrale Strukturen
Sozialdemokraten befürworten einheitliche Arbeiterorganisation

Arbeitslosigkeit von 1887 bis 1940
Entwicklung der Arbeitskämpfe 1848 bis 1875 (pdf) 
Die Arbeitszeit in der Industrie von 1800 bis 1918 (pdf)
Mitgliederentwicklung gewerkschaftlicher Spitzenverbände ab 1869 (pdf)
Struktur der Erwerbsbevölkerung 1882 bis 2012 (pdf)
Erwerbstätige nach Beruf 1895 bis 2014 (pdf)

Downloadmöglichkeit der Tabellen aller Epochen 

Quellen- und Literaturhinweise

Albrecht, Willy, Fachverein – Berufsgewerkschaft – Zentralverband. Organisations­probleme der deutschen Gewerkschaften 1870-1890, Bonn 1982

Auer, Ignaz, Nach zehn Jahren. Material und Glossen zur Geschichte des Sozialistengesetzes, Nürnberg 1913

Berdrow, Wilhelm (Hrsg.), Alfred Krupps Briefe 1826 - 1887, Berlin 1928,

Fricke, Dieter, Die deutsche Arbeiterbewegung 1869-1914. Ein Handbuch über ihre Organisation und Tätigkeit im Klassenkampf, Berlin (DDR) 1976

Führer, Karl Christian, Carl Legien 1861-1920. Ein Gewerkschafter im Kampf für ein „möglichst gutes Leben“ für alle Arbeiter, Essen 2009

Kutz‑Bauer, Helga, Arbeiterschaft, Arbeiterbewegung und bürgerlicher Staat in der Zeit der Großen Depression. Eine regional‑ und sozialgeschichtliche Studie zur Geschichte der Arbeiterbewegung im Großraum Hamburg 1873-1890, Bonn 1987

Mommsen, Wolfgang J. u. Gerhard Husung (Hrsg.), Auf dem Wege zur Massengewerk­schaft. Die Entwicklung der Gewerkschaften in Deutschland und Großbritannien 1880-1914, Stuttgart 1984

Müller, Dirk H., Gewerkschaftliche Versammlungsdemokratie und Arbeiterdelegierte vor 1918. Ein Beitrag zur Geschichte des Lokalismus, des Syndikalismus und der entstehenden Rätebewegung, Berlin 1985

Müller, Hermann, Die Organisationen der Lithographen, Steindrucker und verwandten Berufe, Nachdruck der 1917 erschienenen 1. Aufl., Berlin u. Bonn 1978

Protokolle der Verhandlungen der Kongresse der Gewerkschaften Deutschlands. 1, 1892-10, 1919, 7 Bde., Nachdr., Bonn u. Berlin 1979/80

Protokoll des Internationalen Arbeiter-Congresses zu Paris, abgehalten vom 14. bis 20. Juli 1889. Deutsche Übersetzung, Nürnberg 1890

Ritter, Gerhard A. u. Klaus Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914,

Bonn 1992

 

 

Ein wichtiger Theoretiker der Sozialdemokratie: Karl Kautsky (erste Reihe rechts)
© Volk und Zeit; AdsD/A055983

Seite drucken Seite bei Facebook teilen Seite bei Twitter teilen