BEWEGUNG DER LOKALISTEN

Der Streit um lokale oder zentrale Strukturen

Die Anhänger lokaler Organisationsformen, die 1892 in Halberstadt in der Minderheit geblieben sind, können sich zunächst der indirekten Unterstützung durch das Vereinsgesetz erfreuen. Danach ist es „politischen Vereinen” untersagt, überörtliche Verbindungen einzugehen. Und als „politisch” wird jede Stellungnahme zu staatlichem Handeln verstanden, also z. B. die Forderung nach gesetzlicher Arbeitszeitverkürzung, nach Verbesserung des Arbeitsschutzes usw.

Die Gewerkschaften stehen also vor der Wahl, ob sie politische Fragen ansprechen oder aber in überregionale Verbindung treten sollen. Dass der innergewerkschaftliche Konflikt auch nach der Änderung des Vereinsrechts weiterschwelt, deutet darauf hin, dass es auch und vor allem um Meinungsverschiedenheiten über die gewerkschaftliche Organisation und Taktik geht.

Die Lokalisten plädieren für eine radikale, revolutionäre Gewerkschaftspolitik. Sie befürchten, so „Der Bauhandwerker” 1893, ein Erfolg der gewerkschaftlichen Bewegung werde als Beweis dafür gewertet, „dass auf dem Boden der heutigen Ordnung der Arbeiter sich zu seiner Zufriedenheit damit einrichten könnte”, womit „die Notwendigkeit der sozialen Revolution hintenangestellt” wäre. Die Gewerkschaftsbewegung wirke nur dann „revolutionär, indem sie Hoffnungen weckt, die sie nicht erfüllen kann”. Daher sind die Lokalisten Gegner der inzwischen eingeschliffenen Arbeits- und Aufgabenteilung zwischen Partei und Gewerkschaften. Sie verwerfen das Modell der repräsentativen parlamentarischen Demokratie und bekennen sich – von der französischen Arbeiterbewegung beeinflusst – zur „direkten Aktion”, zur syndikalistischen Idee der auf örtlicher Ebene herstellbaren Einheit von wirtschaftlichem und politischem Kampf.

Um 1900 erreichen die Lokalisten, die sich 1897 unter dem Namen „Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften” zusammenschließen, mit etwa 20.000 Mitgliedern ihren Höchststand. Der Schwerpunkt der Bewegung liegt eindeutig in Berlin, und zwar insbesondere bei Maurern und Zimmerern sowie bei Metallarbeitern. Das ist, was das Baugewerbe anlangt, insbesondere an den günstigen Bedingungen für lokale Streikbewegungen in Berlin zurückzuführen, zumal den vielfach unersetzbaren Handwerkern in der guten Baukonjunktur der Hauptstadt noch keine starken Arbeitgeberverbände gegenüberstehen.

Nach der Jahrhundertwende verliert die Bewegung der Lokalisten rasch an Boden. Nicht ohne Wirkung bleibt dabei, dass der SPD-Parteitag 1908 beschließt, die Mitgliedschaft in der SPD sei nicht mit der in der Freien Vereinigung vereinbar.

Seiten dieses Artikels:

1871 - 1890

Nach dem deutsch-französischen Krieg: Arbeiterschaftsverband unter Druck
Das Sozialistengesetz und die Folgen: Die Verbotswelle rollt

Themen und Aspekte dieser Epoche:

Die SPD unter dem Sozialistengesetz
Streit um lokale oder zentrale Strukturen
Sozialdemokraten befürworten einheitliche Arbeiterorganisation

Arbeitslosigkeit von 1887 bis 1940
Entwicklung der Arbeitskämpfe 1848 bis 1875 (pdf) 
Die Arbeitszeit in der Industrie von 1800 bis 1918 (pdf)
Mitgliederentwicklung gewerkschaftlicher Spitzenverbände ab 1869 (pdf)
Struktur der Erwerbsbevölkerung 1882 bis 2012 (pdf)
Erwerbstätige nach Beruf 1895 bis 2014 (pdf)

Downloadmöglichkeit der Tabellen aller Epochen 

Quellen- und Literaturhinweise

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Berdrow, Wilhelm (Hrsg.), Alfred Krupps Briefe 1826 - 1887, Berlin 1928,

Fricke, Dieter, Die deutsche Arbeiterbewegung 1869-1914. Ein Handbuch über ihre Organisation und Tätigkeit im Klassenkampf, Berlin (DDR) 1976

Führer, Karl Christian, Carl Legien 1861-1920. Ein Gewerkschafter im Kampf für ein „möglichst gutes Leben“ für alle Arbeiter, Essen 2009

Kutz‑Bauer, Helga, Arbeiterschaft, Arbeiterbewegung und bürgerlicher Staat in der Zeit der Großen Depression. Eine regional‑ und sozialgeschichtliche Studie zur Geschichte der Arbeiterbewegung im Großraum Hamburg 1873-1890, Bonn 1987

Mommsen, Wolfgang J. u. Gerhard Husung (Hrsg.), Auf dem Wege zur Massengewerk­schaft. Die Entwicklung der Gewerkschaften in Deutschland und Großbritannien 1880-1914, Stuttgart 1984

Müller, Dirk H., Gewerkschaftliche Versammlungsdemokratie und Arbeiterdelegierte vor 1918. Ein Beitrag zur Geschichte des Lokalismus, des Syndikalismus und der entstehenden Rätebewegung, Berlin 1985

Müller, Hermann, Die Organisationen der Lithographen, Steindrucker und verwandten Berufe, Nachdruck der 1917 erschienenen 1. Aufl., Berlin u. Bonn 1978

Protokolle der Verhandlungen der Kongresse der Gewerkschaften Deutschlands. 1, 1892-10, 1919, 7 Bde., Nachdr., Bonn u. Berlin 1979/80

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Ritter, Gerhard A. u. Klaus Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914,

Bonn 1992

 

 

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