Die Gewerkschaften unterschätzen 1929/30, welches Ausmaß die Krise annehmen wird. Die Weimarer Republik ist seit Beginn von zahlreichen Krisen überschattet, das erneute Ansteigen der Arbeitslosigkeit wird daher nicht sofort als „außergewöhnlich” erkannt.
Zwar ist nicht zu übersehen, dass sich mit den ersten Anzeichen der wirtschaftlichen Stagnation die Auseinandersetzungen mit den Arbeitgebern – besonders der Schwerindustrie – zuspitzen. Doch das Wechselverhältnis von wirtschaftlicher Entwicklung einerseits und wirtschaftlichen und politischen Krisenstrategien der Arbeitgeber andererseits, die mit zunehmender Verschärfung der Wirtschaftskrise immer deutlicher auf einen Abbau der sozialstaatlichen und schließlich auch demokratischen Grundlagen der Weimarer Republik drängen, wird von den Gewerkschaften unterschätzt.
Mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen Gesamtlage stehen die Gewerkschaften erneut vor großen Herausforderungen. Sie versuchen die Lohnhöhe zu stabilisieren, die Versicherungsleistungen zu schützen und das Preisniveau zu senken, um die Lasten der Krise „gerechter” zu verteilen. Sie fordern die Verkürzung der Arbeitszeit und wirksame Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.
Die Gewerkschaftsarbeit vor Ort wird überdies vielfach durch lokale Beschäftigungs- und Kulturprogramme ergänzt, um Zusammenhalt und Organisation zu stabilisieren. Doch die Vielzahl der Aktivitäten kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich mit der Zuspitzung der Krise, mit der staatlichen Notverordnungspolitik und den zunehmenden staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft die Konflikte verlagern: Die Auseinandersetzungen zwischen Einzelgewerkschaften und Arbeitgeberverbänden nehmen ab, die Konflikte zwischen Gewerkschaftsführungen und zentralen Regierungsstellen nehmen zu.
Streit um die Arbeitslosenversicherung
Doch der Einfluss der Gewerkschaften auf die Politik ist begrenzt. Um die große Koalition in Berlin nicht zu gefährden, werden viele Forderungen von den Parteien, die den Freien Gewerkschaften nahestehen, nur halbherzig verfolgt. Im Streit um die Finanzierung der Arbeitslosenversicherung spitzt sich die Lage zu. Diese hat – vergleichbar mit dem Achtstundentag – einen hohen Symbolwert für die Arbeiterbewegung. Sie greift in die Gesetze der kapitalistischen Wirtschaft ein und mindert die sozialen Folgen der Arbeitslosigkeit.
Als die Frage des Defizitausgleichs der Arbeitslosenversicherung im März 1930 wieder akut wird, treten die Freien Gewerkschaften für eine Erhöhung der Beitragssätze von 3,5 auf 4 Prozent ein, um eine Herabsetzung der Versicherungsleistungen zu verhindern. Doch die DVP ist nicht bereit, diese Beitragserhöhung mitzutragen. Begründung: Die deutsche Wirtschaft werde durch diese preistreibenden Mehrkosten überlastet, deren Exportfähigkeit zerstört.
Mit Rücksicht auf die Erhaltung der Regierungskoalition akzeptiert die Mehrheit der SPD-Minister einen von Heinrich Brüning (Zentrum) vorgelegten Kompromissvorschlag, der jedoch nur eine befristete Deckung des Defizits der Arbeitslosenversicherung verspricht, so dass schon in absehbarer Zeit Leistungskürzungen erforderlich wären. In der SPD-Reichstagsfraktion setzen sich hingegen die Gewerkschafter durch: Die SPD lehnt den Kompromissvorschlag Brünings ab. Das Kabinett Müller, die letzte parlamentarische Regierung der Weimarer Republik, tritt am 27. März 1930 zurück.
In diesem Konflikt geht es um weit mehr als um die Sicherung der Arbeitslosenversicherung. Die Frage lautet im Grunde, wem die Hauptlast der Krise aufgebürdet werden soll. Sozialdemokratie und Freie Gewerkschaften stehen angesichts der vorangegangenen sozialpolitischen Rückschläge und der KPD-Konkurrenz mit dem Rücken an der Wand. Diese Situation wird von der DVP dazu benutzt, die SPD durch eigene Unnachgiebigkeit aus der Koalition zu drängen. Schon beim Ende der Regierung Müller zeigt sich, dass die (Freien) Gewerkschaften zwar stark genug sind, die SPD auf ihren Kurs zu bringen. Doch sie können die Politik nicht in ihrem Sinne beeinflussen. Zudem zeichnet sich hier erstmals mit aller Deutlichkeit der Konflikt zwischen „der” SPD als einer koalitionsbereiten Volkspartei und „den” Gewerkschaften als der traditionellen Arbeitnehmerinteressenvertretung ab.
Rigoroser Sparkurs
Die Erwartungen an die Regierung Heinrich Brünings, die erste der „Präsidialkabinette”, sind je nach Richtungsgewerkschaft sehr unterschiedlich. Brüning ist Anfang der 1920er Jahre Geschäftsführer des christlich-nationalen DGB gewesen, und mit Adam Stegerwald wird der profilierteste christliche Gewerkschafter Reichsarbeitsminister. Die Christlichen Gewerkschaften begrüßen Brünings Kabinettsbildung als „Wende in der deutschen Politik”. Der ADGB hat hingegen kaum positive Erwartungen: Die neue Regierung nenne sich „bürgerliche Einheitsfront”, sei aber allenfalls eine „geschäftstüchtige Handelsgesellschaft mit beschränkter Haftung”, die sich nicht auf eine parlamentarische Mehrheit stütze, „die einen einheitlichen, auf die Dauer wirksamen politischen Willen aufzubringen vermag”.
Die Regierung Brüning drängt, wie vor ihr das Kabinett Müller, auf den Ausgleich des Reichsetats: Angesichts ständig sinkender Einnahmen der öffentlichen Hand von 20,1 (1929/30) auf 13,8 Mrd. RM (1932/33) setzt Brüning einen rigorosen Sparkurs durch, der durch den Wegfall staatlicher Investitionen, durch die Senkung von Sozialausgaben und Löhnen zur Verschärfung der Krise beiträgt.
Dies führt die Christlichen Gewerkschaften bald in die schwierige Situation, politische Loyalität zur Regierung und Vertretung der Interessen ihrer Mitglieder miteinander zu verbinden. Trotz aller Proteste sehen sie sich letztlich zum Stillhalten gegenüber der unsozialen Notverordnungspolitik genötigt. Nicht weil man meint, das „kleinere Übel” in Kauf nehmen zu müssen, sondern weil man der „eigenen” Regierung nicht noch mehr Schwierigkeiten bereiten will. Auch trägt die Nähe zur Regierung Brüning, deren Einschätzung der Reparationsfrage als Zentralproblem der deutschen Innen- und Außenpolitik sie überdies teilen, dazu bei, dass die Christlichen Gewerkschaften keine eigenen Alternativen zur Deflationspolitik entwickeln. Es bleibt bei Stellungnahmen gegen Lohn- und Preisabbau, für ein Notopfer der Fest- und Gutbesoldeten zur Stabilisierung der Reichsanstalt und für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die von Arbeitgebern und Gewerkschaften gemeinsam getragen werden sollen.
Der Ton der Freien Gewerkschaften gegenüber der Regierung ist aggressiver, doch inhaltlich sind zunächst keine großen Unterschiede zu den Forderungen der Christlichen Gewerkschaften zu erkennen. Während die Regierung mit ihrer Politik der insbesondere von Industrieverbänden vertretenen Forderung nach Senkung der Gestehungskosten (Steuern, Löhne, Sozialabgaben) die Wettbewerbsfähigkeit der exportabhängigen deutschen Wirtschaft auf dem Weltmarkt sichern bzw. wiederherstellen will, weisen die Freien Gewerkschaften darauf hin, dass nicht in einer Steigerung des Exports, sondern in Anreizen für die Binnennachfrage der Ausweg aus der Krise zu suchen sei.