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Mitarbeiter protestieren mit einer Lärm-Demo vor der Firmenzentrale. Der Express-Lieferdienst Gorillas kündigt allen Beschäftigten, die sich an den Arbeitsniederlegungen beteiligt haben.

Nach der Deutschen Einheit: Für „bunte“ Gewerkschaften in einer vielfältigen Gesellschaft

Die ersten Jahre nach der Deutschen Einheit sind überschattet von ausländerfeindlichen Gewalttaten: Die Mordanschläge in Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Mölln und Solingen sowie die Überfälle von Skinheads auf Ausländer sind Symbole des aufflammenden Ausländerhasses.

Er entzündet sich am Anstieg der Zahl der in Deutschland lebenden Ausländer und Ausländerinnen. Sie wächst – nicht zuletzt in Folge von Fluchtbewegungen – von 5,6 Millionen im Jahre 1990 über 7,3 Millionen (2000) und 8,6 Millionen (2015) auf über 10 Millionen (2022). Davon sind 2022 rund 5 Millionen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Insgesamt gibt es zu diesem Zeitpunkt ca. 34,45 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte.

Reformen des Asylrechts sowie alle weiteren Maßnahmen zur Begrenzung der Zuwanderung tragen nicht nachhaltig zu einer Entspannung der Situation bei. In der öffentlichen Debatte wird mit zunehmender Schärfe über die „Belastungsgrenze“ Deutschlands gestritten. So geht es für die Gewerkschaften seitdem verstärkt um die Abwehr von allen Formen der Fremdenfeindlichkeit, die Migrantinnen und Migranten immer wieder erfahren.

Parallel dazu setzt sich der Trend zur integrativen Gewerkschaftsarbeit fort. Erfolgreich ist diese Arbeit vor allem bei den ausländischen Arbeitskräften, die in festen Arbeitsverhältnissen sowie in Betrieben mit hohem Organisationsgrad beschäftigt sind und dadurch in Kontakt mit Gewerkschaften gekommen sind. So verweist die IG Metall 2017 darauf hin, dass fast eine halbe Million ihrer 2,2 Millionen Mitglieder, also fast ein Viertel, Migrationshintergrund haben.

Wie die IG Metall werben auch die anderen Einzelgewerkschaften im Kreis der ausländischen Kolleginnen und Kollegen gezielt um Mitglieder. Sie bieten ihnen Foren, in denen sie ihre speziellen Wünsche und Forderungen vertreten können.. So veröffentlicht „ver.di publik“ im Februar 2015 ein Heft mit dem Titel „V – Wie Ver.di oder Vielfalt“. Anlass ist die 2. Bundeskonferenz der Migrantinnen und Migranten in ver.di. Vor allem geht es um die Probleme bei der Eingliederung von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt und in die Gesellschaft – und in die Gewerkschaften. Aber auch um die Hoffnungen und Ansprüche von Zugewanderten auf Mitgestaltung eben auch durch die aktive Mitarbeit in Gewerkschaften. Deutlich soll werden: Jeder Mensch ist individuell und einzigartig. Gerade aus dieser Unterschiedlichkeit erwächst das Gemeinsame – getreu dem Leitspruch: „Einheit in Vielfalt“. Um dies symbolisch zu verdeutlichen, unterzeichnete die IG BCE im Jahr 2017 die Charta der Vielfalt.

„Charta der Vielfalt“ 2017

In den 2020er Jahren werden diese Aktivitäten verstärkt fortgeführt. Zu denken ist z.B. an die Bundesmigrationskonferenzen, von denen ver.di im April 2023 die vierte abhält. Auf dieser Konferenz betont Canan Yildirim, die Vorsitzende des Bundesmigrationsausschusses, die Schwierigkeiten, migrantische Beschäftigte für die Mitarbeit in der Gewerkschaft zu gewinnen, weil sie vielfach in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten. Ihre Forderung lautet: „ver.di muss für diese Kolleginnen und Kollegen niedrigschwellig ansprechbar sein, am besten über eine Ansprechperson aus dem jeweiligen Kulturkreis.“ Außerdem sollen die migrantischen Mitglieder entsprechend ihrem Anteil von etwa 30 % in allen Gremien und eben auch in Führungspositionen vertreten sein: „Noch mehr Vielfalt würde ver.di gut zu Gesicht stehen.“ Und Erdogan Kaya, ehemaliger Personalrat der Berliner Verkehrsbetriebe und langjähriger Vorsitzender des ver.di-Bundesmigrationsausschusses, betont, dass sich die migrantischen Kolleginnen und Kollegen nicht auf die Rolle von „Experten für Migrantenthemen“ reduzieren lassen wollen. Der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke bekennt sich in seiner Rede auf der Konferenz dazu: „Wir sind ein Einwanderungsland und ver.di ist eine Einwanderungsgewerkschaft.“ Dass daraus Konsequenzen gezogen werden, wenn es um die Bekämpfung von Ungleichbehandlung und rassistischer Diskriminierung geht, mahnt Ferda Ataman, die Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, in ihrem Grußwort an.

Eine wachsende Zahl von Ausländerinnen und Ausländern arbeitet in prekären Beschäftigungsverhältnissen, im Niedriglohnsektor – oder auch ganz ohne Papiere „schwarz“. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dieser Gruppen sind für Gewerkschaften schwer zu erreichen. Und doch orientieren sich manche von ihnen, wenn es um die Vertretung ihrer Interessen geht, an Vorbildern aus der gewerkschaftlichen Arbeit. Zu denken ist z.B. an den Streik der Berliner Fahrradkuriere des Lieferdienstes Gorillas im Herbst 2021. Und auch die ausländischen Pflegekräfte zeigen während der Tarifrunden, z.B. in den Konflikten 2022/23, eine wahrnehmbare Präsenz.

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