Schon bevor sich die Anzeichen der Weltwirtschaftskrise auch in Deutschland bemerkbar machen, verschärfen sich die Verteilungskämpfe, die schließlich im Laufe des Jahres 1928 eskalieren. Höhepunkt dieser Entwicklung ist der Ruhreisenstreit. Er wird ausgelöst durch die fristgemäße Kündigung des Tarifvertrages in der rheinisch-westfälischen Eisenindustrie seitens der Metallarbeitergewerkschaften zum 31. Oktober 1928. Damit verbunden ist die Forderung nach einer Lohnerhöhung um 15 Pfennig pro Stunde für alle Arbeitergruppen über 21 Jahre.
Die Arbeitgeber stellen sich auf den Standpunkt, das Lohnniveau habe bereits eine Höhe erreicht, das jede weitere Anhebung verbiete. (Ein Facharbeiter verdient damals etwa 80, ein Hilfsarbeiter etwa 60 Pfennig pro Stunde). Der Arbeitgeberverband der Nordwestlichen Gruppe des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller (Arbeit-Nordwest) lehnt jede Lohnerhöhung ab und kündigt am 13. Oktober 1928 die Aussperrung aller Arbeitnehmer zum 1. November an.
Das Schlichtungsverfahren
Das daraufhin von den Gewerkschaften beantragte Schlichtungsverfahren wird, da die Düsseldorfer Schlichterkammer keine Einigung erzielen kann, am 27. Oktober von Sonderschlichter Wilhelm Joetten entschieden. Sein Spruch wird von Reichsarbeitsminister Wissell als verbindlich erklärt. Dieser setzt als Kompromiss – die Gewerkschaften hatten ihre Forderungen inzwischen auf 12 Pfennig pro Stunde reduziert – eine Erhöhung der Löhne um 6 Pfennig fest.
Die Gewerkschaften beugen sich diesem Schlichterspruch, Arbeit-Nordwest aber weist ihn zurück. Die Aussperrung von über 220.000 Arbeitnehmern tritt in Kraft. Erst am 30. November wird in getrennten Besprechungen von Vertretern der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände mit Beauftragten der Reichsregierung die Durchführung eines neuen Schlichtungsverfahrens vereinbart, das von dem sozialdemokratischen Reichsinnenminister Carl Severing geleitet werden soll. Arbeitgeber und Gewerkschaften erkennen im Voraus den Schlichterspruch als Tarifvertrag an. Die Arbeitgeber heben daraufhin die Aussperrung am 3. Dezember 1928 auf.
Severing befindet sich in einer schwierigen Situation: Er muss einen Mittelweg zwischen der Desavouierung seines Parteigenossen und Ministerkollegen Wissell und den offenbar erforderlichen Zugeständnissen an die unternehmerische Interessenlage suchen. Die Lösung soll zudem für die betroffenen Arbeitnehmer inhaltlich akzeptabel sein. Nach eingehender Information über die wirtschaftliche und soziale Lage an der Ruhr verkündet Severing am 21. Dezember seinen Schiedsspruch. Wie kaum anders zu erwarten ist, bleibt er hinter dem Stichentscheid Joettens zurück, lässt diesen allerdings bis 31. Dezember 1928 gelten. Ab 1. Januar 1929 sind dann Lohnerhöhungen zwischen 1 und 6 Pfennigen pro Stunde vorgesehen.
Reaktionen
Während sich die Freien Gewerkschaften – wohl mit Rücksicht auf die Partei- und Regierungszugehörigkeit Severings – eher zurückhaltend bis positiv äußern, ruft der Schiedsspruch bei den Arbeitgebern schärfste Kritik hervor. Gerade in dieser dem Inhalt des Schiedsspruchs wohl kaum angemessenen Kritik zeichnen sich Tendenzen einer Verabsolutierung des unternehmerischen Interessenstandpunktes ab, die zum Merkmal der Endphase der Weimarer Republik werden sollte. Auch die Tatsache, dass über die Auslegung einzelner Bestimmungen des neuen Tarifvertrages bis Oktober 1929 verhandelt wird, wie auch die seit 1929 deutlich anwachsende Zahl von Einmannschiedssprüchen zeigen die geringe Bereitschaft und Fähigkeit der Tarifparteien, angesichts einer abflauenden Konjunktur in autonomen Verhandlungen zu tragbaren Kompromissen zu gelangen.
Die Verbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen hatten die Arbeitgeber bereits seit der Einführung im Jahre 1923 kritisiert. Nun, im Oktober 1928, gehen sie offensiv dagegen vor. Dies mag konjunkturell bedingt sein, ist aber wohl eher politisch motiviert: Es gelte der SPD, die nach den Wahlen vom Mai 1928 an der Reichsregierung beteiligt ist, und den Gewerkschaften Grenzen zu setzen und die politische Einflussnahmen auf die Privatwirtschaft zu stoppen. Die Arbeitgeber befürchten, eine SPD-geführte Regierung werde den Gewerkschaften bei der Forderung nach einer Wirtschaftsdemokratie entgegenkommen.
Die Politik der Unternehmer im Ruhreisenstreit ist sicherlich als Ausdruck der wachsenden Distanzierung von der Weimarer Demokratie zu bewerten, die – mit der polemischen Alternative von „Aufstieg oder Niedergang” – schließlich in die Ablehnung des ganzen „Systems” mündet.