Je länger der Krieg dauert, desto lauter wird die Kritik an der Burgfriedens-Politik der Gewerkschaften. Die erhofften sozialen Reformen bleiben aus, die Not der Arbeiterfamilien wächst. Insbesondere in den Freien Gewerkschaften rumort es, Streiks und Demonstrationen nehmen zu. Sie richten sich nicht nur gegen Staat und Arbeitgeber, sondern auch gegen die Führung der Gewerkschaften. Die Freien Gewerkschaften und die Sozialdemokratische Partei stehen vor einer Zerreißprobe.
Die innerorganisatorische Debatte bei den Freien Gewerkschaften und der SPD entzündet sich an der Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten. Wortführer sind Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Als Reichstagsabgeordneter stimmt Karl Liebknecht gegen die Bewilligung der Kriegskredite und den Burgfrieden. Die Führung der Freien Gewerkschaften hingegen unterstützt den Kurs der sozialdemokratischen Fraktionsmehrheit. Die Generalkommission begrüßt die Spaltung der SPD, die mit der Gründung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) Ostern 1917 vollzogen wird. Um ein Übergreifen des Konflikts auf die Freien Gewerkschaften zu vermeiden, tritt sie für eine konsequente Ausgrenzung der Gegner der Burgfriedenspolitik ein.
Dennoch: Der Widerstand in den eigenen Reihen wächst. Besonders stark ist die Opposition dort, wo sich gewerkschaftliche und parteipolitische Gruppierungen gegenseitig unterstützen, insbesondere in Berlin, Braunschweig, Bremen, Hamburg und in Leipzig. Auf dem Kölner Verbandstag des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes im Juni 1917 zeigt sich, wie stark die innergewerkschaftliche Opposition ist. Nur eine knappe Mehrheit von 64 zu 53 Stimmen billigt die Politik des Vorstandes. Nach dem Krieg, im Jahr 1919, übernimmt die Opposition die Führung. Robert Dissmann, der während des Krieges in die USPD eingetreten ist, wird zum Vorsitzenden gewählt. Die Verbände der Schuhmacher und der Textilarbeiter bekennen sich mehrheitlich zur Politik der USPD, in den Verbänden der Bäcker, Glasverarbeiter, Handlungsgehilfen und Kürschner gibt es einen starken oppositionellen Flügel.

Robert Dissmann, Vorsitzender des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes und Mitglied der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, 1918
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Aber anders als in der SPD führen die Flügelkämpfe in den Freien Gewerkschaften nicht zur Spaltung. Die innerorganisatorische Opposition lässt sich trotz aller Kritik an der Burgfriedenspolitik einbinden. Die Gewerkschaftsführungen werten dies als Erfolg. De facto aber tragen sie mit dazu bei, dass sich große Teile der Arbeiterschaft von den Gewerkschaften abwenden.
Gewerkschaften verlieren an Einfluss
Schon 1915 kommt es zu ersten Hungerunruhen gegen die unzureichende und ungerechte Lebensmittelversorgung. Sie werden getragen von Frauen und Jugendlichen, die unter der katastrophalen Lage besonders zu leiden haben. Im Juni 1916 streiken über 50.000 Berliner Metallarbeitern für den Frieden, im „Steckrübenwinter” 1916/17 bekommt die Protestbewegung weiteren Zulauf, Demonstrationen und spontane Streiks, meist ohne Beteiligung der Gewerkschaften, nehmen zu. Unter dem Eindruck der russischen Februar-Revolution erreichen sie einen weiteren Höhepunkt: Im April 1917 gehen etwa 300.000 Rüstungsarbeiter in Berlin, Braunschweig und Leipzig aus Protest gegen Lebensmittelnot und für politische Ziele auf die Straße.
Nach weiteren Streiks im Sommer 1917 legen im Januar 1918 etwa eine Million Arbeiter und Arbeiterinnen der Rüstungsindustrie die Arbeit nieder. Unter der Parole „Frieden, Freiheit und Brot!” demonstrieren sie für einen sofortigen Friedensschluss ohne Gebietsansprüche, für eine durchgreifende Demokratisierung der Gesellschaft und für eine bessere Lebensmittelversorgung. Allein in Berlin streiken 400.000 Arbeiter und Arbeiterinnen. Sind die Teilnehmer der Massenaktionen 1917/18 vor allem Frauen, Jugendliche und ungelernte Arbeiter, die den Gewerkschaften fernstehen, so werden diese Streiks vielfach von gewerkschaftlich geschulten Facharbeitern organisiert. Enttäuscht von der Burgfriedenspolitik schließen sie sich den revolutionären Obleuten an. In einigen Betrieben setzen sich die Arbeiterausschüsse an die Spitze der Streikbewegungen.
In dieser Phase entstehen neue Organisationsformen, von denen die Gewerkschaften ausgeschlossen sind. So wählen die Streikenden 414 Betriebsvertrauensleute, die den Groß-Berliner Arbeiterrat bilden. An der Spitze des Aktionsausschusses stehen 11 Mitgliedern, drei von der Mehrheitssozialdemokratischen Partei (MSPD) und drei von der USPD. Die Vorstände der Gewerkschaften sind nicht vertreten. Auf Betriebsebene entwickelt aus dem Kreis der gewerkschaftlichen Vertrauensleute die Gruppe der „Revolutionären Obleute”, die politisch der USPD nahesteht. Sie propagieren, unter Führung von Emil Barth und Richard Müller die Wahl von Räten, eine Idee, die nach Ende des Krieges und in der Revolution 1918 eine große Rolle spielen wird.
Reaktion der Gewerkschaften
Die Erfolge der Streiks sind bescheiden, der Einfluss auf die gewerkschaftliche Politik gering. Allenfalls indirekt wirkt sich der Massenprotest aus. Staats- und Militärführung sehen die Notwendigkeit, den gewerkschaftlichen Forderungen wenigsten teilweise entgegenzukommen, um deren Position zu stärken.
Die Freien Gewerkschaften selbst beobachten die Protestbewegungen aufmerksam und mit Argwohn. Schließlich sind es auch ihre Mitglieder, die sich den Protesten angeschlossen haben. Aber statt die eigenen Positionen zu überdenken, verstärken sie die Appelle an die Arbeiter, sich den Streikbewegungen nicht anzuschließen.
Zahl der Mitglieder wächst
Das Beharrungsvermögen der Gewerkschaften mag auch darauf zurückzuführen sein, dass ein Teil der Arbeiterschaft sich sehr wohl von den Gewerkschaften vertreten fühlt. Die Anerkennung durch den Staat und die Mitwirkung der Gewerkschaften in den Arbeiter- und Schlichtungsausschüssen wird als Erfolg empfunden, die Zahl der Mitglieder steigt, insbesondere in den Großbetrieben. Die Zahl der Mitglieder aller Gewerkschaften klettert von 1,18 Millionen im Jahr 1916 auf 1,65 Millionen im Jahr 1917 und schließlich auf 3,51 Millionen im Jahr 1918. Von einer generellen Vertrauenskrise gegenüber den Gewerkschaften kann also keine Rede sein. Doch auf die rasch wachsendeProtestbewegung haben sie keinen an Einfluss.
Kriegsende und Revolution
Am 29. September 1918 gesteht die Oberste Heeresleitung die Niederlage ein und fordert die Regierung auf, sofort über einen Waffenstillstand zu verhandeln. Anfang Oktober übernimmt Prinz Max von Baden die Regierung, der erstmals Vertreter der Mehrheitsparteien des Reichstages angehören. Und wieder sind die Gewerkschaften bereit, Mitverantwortung zu übernehmen: Gustav Bauer von der Generalkommission und Johannes Giesberts von den Christlichen Gewerkschaften treten in die Regierung ein, die vor der schweren Aufgabe steht, die Kriegsniederlage zu besiegeln.
Mit den Reformen, die auf den Weg gebracht werden, verfolgt die Regierung zwei Ziele: Zum einen sollen die Vertreter eines demokratischen und sozialen Reformkurses – von den Gewerkschaften bis zu den mit ihnen verbundenen Parteien – in die Haftung für die Kriegspolitik eingebunden werden, um somit von der Verantwortung der Obersten Heeresleitung und der Reichsführung abzulenken. Zum anderen soll der radikalen Massenbewegung der Wind aus den Segeln genommen werden, um den befürchteten Umsturz zu verhindern. Die Rechnung geht nicht auf: Die Revolution bricht aus, das Kaiserreich bricht zusammen. Der Weg ist frei für eine parlamentarische Republik.