Zwei Themen stehen im Mittelpunkt der Gewerkschaftspolitik in den 1990er Jahren: Die Lebensverhältnisse in den Neuen Bundesländern verbessern und die in den Alten zumindest stabilisieren. Konkret: Die Gewerkschaften setzen auf eine aktive Beschäftigungspolitik und kämpfen gegen den drohenden Sozialabbau – kein leichtes Vorhaben im Zeitalter von Globalisierung und Digitalisierung.
Schon die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Regierung Kohl stößt bei den meisten Gewerkschaften auf große Vorbehalte. Sie kritisieren, dass die finanziellen Lasten für die Wiedervereinigung weitgehend aus den Sozialsystemen und nur zum Teil aus Steuermitteln finanziert werden. Und in der Tat: Schon bald sind die Überschüsse in den Sozialkassen abgebaut. Dennoch bleibt die Kohl-Regierung bei ihrem Kurs. Eine Ergänzungsabgabe auf die Einkommenssteuer für Höherverdiener, wie von den Gewerkschaften gefordert, lehnt sie ab. Ebenso die Erhöhung der Beiträge zu den Sozialkassen, um die Wirtschaft nicht zusätzlich zu belasten. Die Proteste der Gewerkschaften gegen diese Politik verhallen: Die Sozialleistungen werden gekürzt. Und der „Solidaritätsbeitrag“ wird von allen Steuerzahlern, nicht nur von den „Besserverdienenden“ eingezogen.
Auch die Vorschläge der Gewerkschaften für eine aktive Beschäftigungspolitik finden bei der CDU/CSU/FDP-Regierung wenig Gehör. Schon im März 1991 stellt Franz Steinkühler, der Vorsitzende der IG Metall, ein Wirtschafts- und Beschäftigungsprogramm für die Neuen Bundesländer vor. Darin fordert die IG Metall die Treuhandanstalt, die die Betriebe im Osten sanieren oder abwickeln soll, zum Umsteuern auf. Sie schlägt vor, statt alle Betriebe zu privatisieren oder stillzulegen und die Beschäftigten in die Arbeitslosigkeit zu entlassen, Beschäftigungsgesellschaften gründen und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dort für eine gewisse Zeit weiter zu beschäftigen. Der DGB schließt sich diesen Vorschlägen an. Im Mai-Aufruf 1991 sind die wichtigsten Forderungen des DGB für die „Soziale Einheit in Frieden und Freiheit” zusammengefasst.
Zeitzeugen-Interview Steinkühler: zeitzeugen.fes.de
Soziale Einheit in Frieden und Freiheit Mai-Aufruf des Deutschen Gewerkschaftsbundes 1991 (pdf)

Streik der Stahlarbeiter im Ruhrgebiet: Verkettung der Zufahrt des Hoesch-Werkes in Dortmund, 4. März 1993
© AdsD/6/FOTA162708; Thomas Imo
Doch nicht nur im Osten steigt die Arbeitslosigkeit sprunghaft an. Die Krise hat auch den Westen seit Ende der 1980er fest im Griff. Vor allem die Regionen, in denen die „alten“ Industrien von Kohle und Stahl ansässig sind, trifft der Strukturwandel hart. Der Kampf der Stahlkocher im Jahr 1887 um den Erhalt des Krupp-Werkes in Rheinhausen legt ein beredtes Zeugnis ab, wie schmerzhaft die Veränderung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind. 160 Tage lang streiken sie für den Erhalt des Betriebes, begleitet von einer bundesweiten Solidaritätsbewegung. Der Arbeitskampf endet mit einem Kompromiss: Es wird zunächst nur ein Hochofen stillgelegt. 3.000 Arbeiter verlieren ihre Arbeit, doch es gibt keine Entlassungen. Ältere scheiden über einen Sozialplan aus, Jüngere wechseln in andere Werke. Im August 1993 kommt es, erneut begleitet von zahlreichen Protestaktionen, zum endgültigen Aus für das Werk in Rheinhausen.
1994 unternimmt der DGB einen neuen Anlauf, um mit Arbeitgebern und Regierung über ein Beschäftigungsprogramm zu verhandeln. Dieter Schulte, der auf dem 15. Ordentlichen Kongress im Juni 1994 als Nachfolger von Heinz-Werner Meyer zum Vorsitzenden des DGB gewählt wird, schlägt der Regierung einen Beschäftigungsgipfel vor. 1995 geht die Bundesregierung auf diesen Vorschlag ein und lädt Gewerkschaften und Arbeitgeber zu sogenannten Kanzlerrunden zur Zukunftssicherung des Standorts Deutschland. Doch die Beratungen verlaufen im Sande. Auch das „Sofortprogramm für mehr Beschäftigung“ vom Januar 1997, in dem der DGB seine wirtschafts- und finanzpolitischen Vorstellungen konkretisiert, stoßen bei Regierung und Arbeitgebern auf Ablehnung. In diesem Programm fordert er DGB die Halbierung der Überstunden, den Ausbau der Teilzeitarbeit, die Umsetzung der 35-Stunden-Woche und ein staatliches Investitionsprogramm von 10 Milliarden DM im Jahr.
Zeitzeugen-Interview Schulte: zeitzeugen.fes.de
Beschäftigungsoffensive für neue Arbeitsplätze (pdf)
Stattdessen verschärfen die Arbeitgeberverbände mit der Unterstützung der CDU/CSU-FDP-Bundesregierung ihre Politik gegenüber den Gewerkschaften. In der festen Absicht, angesichts der hohen Arbeitslosigkeit die Gunst der Stunde zu nutzen, sollen die Tarifautonomie ausgehöhlt und die Sozialpolitik auf das Prinzip der „Eigenverantwortung” umgestellt werden. Im Klartext heißt das: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollen für Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung tiefer in die Tasche greifen. Gleichzeitig sollen ihre Schutzrechte zugunsten der Arbeitgeber gelockert werden.
Der DGB hält mit seiner „Aktion Gegenwehr” dagegen. Ein breites Bündnis von Gewerkschaften, Kirchen und Sozialverbänden ruft dazu auf, den Sozialstaat zukunftssicher zu machen, statt ihn in Frage zu stellen, wenn seine Leistungen am dringendsten benötigt werden. Auf Großveranstaltungen wie dem „Sozialgipfel” in Köln und der Großkundgebung „Für Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ in Bonn bringen sie im Sommer 1996 ihr Anliegen zum Ausdruck. Vergeblich. Das 1956/57 erstrittene Lohnfortzahlungsgesetz wird verschlechtert, ebenso der Kündigungsschutz in Betrieben mit weniger als 20 Beschäftigten. Um die Arbeitgeber bei der Finanzierung der Pflegeversicherung zu entlasten – sie kommt in zwei Stufen, zum 1. Januar 1994 bzw. 1. Januar 1996 – wird ein Feiertag gestrichen.
Für Freiheit und Frieden
Doch nicht nur die Wirtschafts- und Sozialpolitik der konservativen Regierung fordert die Gewerkschaften in den 1990er Jahren heraus. Auf dem Prüfstand stehen auch die Außen- und Verteidigungspolitik, die Asylpolitik und der Erhalt bürgerlicher Freiheiten.
Der DGB lehnt es ab, dass Deutschland sich im Rahmen der NATO an „out of area-Einsätzen” beteiligt. Und die Teilnahme deutscher Soldaten an UN-Maßnahmen wird nur dann akzeptiert, wenn diese dazu dienen sollen, Frieden zu erhalten, nicht aber Frieden zu schaffen.
Der DGB kämpft gegen die Einschränkung des Asylrechts und engagiert sich gegen die wachsende Ausländerfeindlichkeit in den Alten und Neuen Bundesländern. Die Anschläge von Rechtsextremisten auf türkische Familien und Asylbewerber in Rostock, Solingen, Hoyerswerda und Mölln lösen – nicht nur bei den Gewerkschaften – eine breite Solidaritätsbewegung aus. Der DGB startet Initiativen gegen Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit, wie etwa die Kampagne „Mach’ meinen Kumpel nicht an!” und „Hass macht dumm”. Er beteiligt sich an Lichterketten und Demonstrationen gegen die anwachsende Ausländerfeindlichkeit. In seinem Aufruf „Gegen Fremdenfeindlichkeit und Gewalt und für Demokratie und Toleranz“ vom Oktober 1992 fordert er die „uneingeschränkte Erhaltung des politischen Asylrechts”. Das Engagement der Gewerkschaften in dieser Frage ist umso beachtlicher, als der im Mai 2000 vorgelegte Schlussbericht der 1998 eingesetzten „Kommission Rechtsextremismus“ zeigt, dass sich auch in der Gewerkschaftsmitgliedschaft nationalistische und fremdenfeindliche Vorurteile finden lassen. 1993 wird das Asylrecht mit den Stimmen der SPD verschlechtert.
Der DGB ist gegen den „Großen Lauschangriff“, der das Abhören von Privatwohnungen bei der Verfolgung von Straftaten erleichtert. Die Gewerkschaften werten dies als einen weiteren Schritt zum Abbau demokratischer Grundrechte. Im März 1998 geht das Gesetz durch den Deutschen Bundestag. Und die Gewerkschaften fordern wirkungsvolle Maßnahmen, um die Gleichstellung von Mann und Frau voranzubringen, etwa den Ausbau gesellschaftlicher Einrichtungen für Kinder.