Die wirtschaftliche Besserung und die Erfolge der Gewerkschaftspolitik schlagen sich zwischen 1923 und 1929 direkt in den Entwicklung Mitgliederzahlen nieder.
Insgesamt nehmen die Mitgliederzahlen der Richtungsgewerkschaften seit 1924/25 wieder zu, erreichen aber bis bis zum Beginn der Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929 nicht ihre Höchstwerte der Nachkriegszeit. Die Freien Gewerkschaften behaupten mit einem Anstieg der Mitgliedszahlen von gut vier Millionen im Jahre 1924 auf fast fünf Millionen 1929 unangefochten ihre Führungsposition. Die Christlichen Gewerkschaften folgen mit fast 613.000 (1924) bzw. 673.000 (1929) Mitgliedern – weit vor den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen, die 1924 147.000, 1929 dann 168.000 Mitglieder zählen.
Auch die christlich-nationalen Angestellten-Verbänden legen zu. Die Mitgliedszahl der christlich-nationalen Gesamtverbandes Deutscher Angestelltengewerkschaften (Gedag) steigt von 393.000 im Jahr 1924 auf 557.000 im Jahr 1929. Der liberale Gewerkschaftsbund der Angestellten (GdA) verzeichnet eine Zunahme von 60.000 Mitgliedern und bringt es im Jahr 1929 auf 320.000 Mitglieder. Nur der Allgemeine Freie Angestelltenbund (AfA-Bund) schwächelt: Er kann gerade mal 3.000 dazugewinnen, bleibt aber dennoch mit 450.000 im Jahr 1929 der zweitstärkste Angestellten-Verband.
Blütezeit der gewerkschaftlichen Unternehmen
Die Phase der relativen wirtschaftlichen und politischen Stabilisierung ist zugleich die „Blütezeit” der gemeinwirtschaftlichen Unternehmen. Gerade das Engagement auf diesem Gebiet verändert das Gesicht der Gewerkschaften in den 1920er Jahren stark. Fällt auch die Gründung von Konsumgenossenschaften und auch Versicherungsunternehmen noch in die Vorkriegszeit, so erleben diese und die zahlreichen neugegründeten Unternehmen doch in der Weimarer Zeit einen enormen Aufstieg, Gewerkschafter und Gewerkschaften aller Richtungen werden „Unternehmer”. Die eigene wirtschaftliche Betätigung im Gesamtrahmen kapitalistischer Ökonomie verändert auch das Selbstverständnis der Freien Gewerkschaften, ist ihnen doch klar, dass sie – so Bernhard Meyer von der Arbeiterbank – „in ihrer Geschäftsführung nicht gegen die Gesetze und Methoden des Kapitalismus, solange dieser die beherrschende Stellung einnimmt, verstoßen” können.
Zunächst zu den Freien Gewerkschaften: 1923/24 wird die „Bank der Arbeiter, Angestellten und Beamten AG” gegründet, die bis 1929/30 einen rasanten Aufschwung verzeichnet. Die im Verband sozialer Baubetriebe zusammengeschlossenen Unternehmen prosperieren ebenso wie die Deutsche Wohnungsfürsorge AG, die Volksfürsorge Versicherungen, die Konsumgenossenschaften und die Verlagsgesellschaft des ADGB.
Das gilt auch für die von den Christlichen Gewerkschaften betriebenen Unternehmen: Der „Christliche Gewerkschaftsverlag” und die Verlagsgesellschaft „Der Deutsche” können sich konsolidieren. Die „Deutsche Volksbank AG” (Sitz Essen), die „Deutsche Lebensversicherungs-AG” und die „Deutsche Heimbau Gemeinnützige AG” blühen auf. Beteiligt sind die Christlichen Gewerkschaften zudem an der „Großeinkaufs- und Produktions-AG” (Gepag) und an der „Bausparkasse der Gemeinschaft der Freunde Wüstenrot GmbH”. Außerdem unterstützen die Christlichen Gewerkschaften durch eigene Lokalorganisationen die Aktivitäten des Reichsverbandes der Konsumvereine e.V. und des Reichsverbandes der Bauproduktivgenossenschaften e.V.
Auf dem Gebiet des Genossenschaftswesens kommt es auch immer wieder zur Zusammenarbeit zwischen den Richtungsgewerkschaften. Überdies hat die „Gemeinwirtschaft“ in den Programmen einen hohen Stellenwert, so dass auch die Idee der genossenschaftlichen Selbsthilfe zum Ansatzpunkt einer programmatischen Annäherung wird.
Gewerkschaftsarbeit wird professioneller
Auch die Organisationsstrukturen der Gewerkschaften, die durch die Inflation stark geschwächt worden waren, können wieder aufgebaut werden. Von den 1923 aufgelösten 13 Bezirkssekretariaten der Freien Gewerkschaften werden noch 1924 acht, 1925 dann weitere drei wiederbesetzt. Auch die Reihen der Gewerkschaftsangestellten werden aufgefüllt. Dabei pendelt sich im Laufe der 1920er Jahre folgendes Zahlenverhältnis ein: Auf einen hauptamtlichen Gewerkschaftsfunktionär kommen etwa 700 bis 800 Mitglieder. So gibt es Anfang der 1930er Jahre bei den Freien Gewerkschaften 6.000 Funktionäre, von denen etwa 4.000 in Ortsverwaltungen tätig sind. Rund 1.100 sind auf Zentralverbandsebene und lediglich 43 beim ADGB-Vorstand angestellt. Auch daran ist abzulesen, wie relativ schwach der ADGB als Dachverband ausgebildet ist, und dies gilt erst recht für die regionale Ebene.
Auf den Kongressen 1925 in Breslau und 1928 in Hamburg wird erneut die Freiwilligkeit des 1922 gefassten Beschlusses betont, das Industrieverbandsprinzip durchsetzen zu wollen. Zwar geht die Zahl der dem ADGB angeschlossenen Verbände von 1924 bis 1929 von 40 auf 33 zurück. Doch von einer vollständigen Durchsetzung des Industrieverbandsprinzips ist man weit entfernt. Vielmehr wird Mitte der 1920er Jahre auch in den Freien Gewerkschaften der Berufsgedanke erneut stärker betont.
Die Interessendifferenzen zwischen kleinen und großen Verbänden, zwischen Einzelgewerkschaft und ADGB-Vorstand bleiben indessen erhalten. Auf dem Hamburger Kongress (1928) wird der Schlüssel geändert, nach dem der Bundesausschuss zusammengesetzt ist: Die Verbände sollen nicht mehr einen Vertreter und – bei über 500.000 Mitgliedern – einen weiteren Vertreter in den Bundesausschuss entsenden, sondern die Staffelung soll differenzierter werden: Für 300.000, 600.000 und 900.000 Mitglieder soll jeweils ein weiteres Bundesausschussmitglied benannt werden. Der DMV, der als Einziger zuvor zwei Vertreter im Bundesausschuss hat, erhält nun vier Sitze, weitere fünf Verbände je zwei Sitze.
Insgesamt drängen die kleinen Verbände auf einen Ausbau der Bundeseinrichtungen, um somit der eigenen Organisation Kosten zu ersparen, während sich die großen Verbände gegen eine Aufgaben- und damit Kompetenzerweiterung der ADGB-Zentrale aussprechen. Dies prägt zum Beispiel die Bildungsarbeit, zu deren Koordinierung der ADGB 1927 einen Bildungssekretär einstellt, und die Pressepolitik. Die „Gewerkschafts-Zeitung” wird ausgebaut, die theoretische Monatsschrift „Die Arbeit”, redigiert von Lothar Erdmann, gegründet, und die Arbeitsrechtsbeilage der „Gewerkschafts-Zeitung” wird 1928 als „Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung” unter der Redaktion von Clemens Nörpel zu einer selbstständigen Publikation. Außerdem gründen die Freien Gewerkschaften zusammen mit der SPD und den Konsumgenossenschaften 1925 die „Forschungsstelle für Wirtschaftspolitik”, die unter der Leitung von Fritz Naphtali die Gewerkschaften mit wirtschafts- und sozialpolitischem Sachverstand unterstützen soll. All das sind Anzeichen einer zunehmenden Professionalisierung der hauptamtlichen Gewerkschaftsarbeit.