Ähnlich wie bei der Einschätzung der sozialdemokratischen Politik zu Beginn des Ersten Weltkrieges ist das Verhalten von MSPD und Freien Gewerkschaften in der Revolution nach wie vor Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Kontroversen. Auch hier zeigen sich in den wissenschaftlichen Darstellungen immer wieder die Frontstellungen der damaligen Situation – wenngleich auch in abgeschwächter Form.
Für die einen ergibt sich aus einer umfassenden Analyse der Handlungsmöglichkeiten die Einschätzung, dass die sozialdemokratische Mehrheitspolitik der damaligen Situation angemessen war: Wenn man das Ziel akzeptiert, die demokratische Republik auf eine breite Volksbasis zu stellen, dann war die Wahl zur Nationalversammlung erforderlich. Auch war angesichts der großen Herausforderungen von Kriegsniederlage und Umstellung auf die Friedenswirtschaft die Zusammenarbeit mit den „alten“ Eliten nötig. Das gelte umso mehr, als ein gesellschaftlicher Umsturz in einer hochentwickelten Industriegesellschaft zu erheblichen Verwerfungen in Wirtschaft und Verwaltung führen müsste, deren katastrophale Folgen auch die Masse der Bevölkerung zu tragen hätte. Als politisches Versäumnis wird jedoch vielfach beurteilt, dass die MSPD die tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten unterschätzt und zum Beispiel auch ausgesprochen militante Reaktionäre in ihren Ämtern belassen habe. Außerdem hätten MSPD und Freie Gewerkschaften die „Gefahr von rechts“ deutlich unter-, die „von links“ aber überschätzt. Gerade die letztgenannte Einschätzung wird durch Arbeiten unterstützt, die sich genauer mit dem demokratischen Potenzial der Rätebewegung beschäftigen. Dabei wird deutlich, dass MSPD und Freie Gewerkschaften zu Unrecht die Rätebewegung insgesamt im Zusammenhang der bolschewistischen Revolution in Russland und als Ausdruck einer Diktatur des Proletariats interpretiert haben. Insgesamt werden also Versäumnisse und Fehler der sozialdemokratischen Politik herausgearbeitet, ohne dass damit jedoch die Grundlinie der Politik insgesamt verurteilt wird.
Von anderen wird eben diese Grundlinie angegriffen. Die Politik von USPD oder auch Spartakusbund/KPD gilt als die eigentliche Alternative, die zu einer Fortführung der Revolution und damit zu einer wirklichen Neugestaltung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse hätte führen können, ja müssen. Der MSPD und den Freien Gewerkschaften wird – wie schon mit Blick auf den August 1914 – „Verrat“ an den Prinzipien der Arbeiterbewegung vorgeworfen. Sie hätten mit Novemberabkommen, Ebert-Groener-Pakt und Noskes Vorgehen gegen die revolutionären Massenbewegungen die Revolution abgewürgt und im Blut der Arbeiter erstickt. Vereinzelt wird versucht, Friedrich Ebert die Verantwortung für die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts zuzuweisen.
Mit beiden Geschichtsinterpretationen werden im Grund die damaligen politischen Kampfpositionen wiederholt. Je nach politischem Standort, wird die Politik der MSPD mal – trotz aller Fehler und Versäumnisse – für „im Prinzip“ akzeptabel, mal aber für völlig verfehlt gehalten. Beide Interpretationen werden nach wie vor zur historischen Legitimation aktueller Politik genutzt. Wer das Modell einer pluralistischen Demokratie befürwortet, wird eher der Position der MSPD zuneigen. Wer ein sozialistisches Deutschland anstrebt, sieht in der Politik der USPD bzw. der KPD den einzig gangbaren Weg.
Handlungsspielräume nicht genutzt
Inzwischen zeichnet sich – trotz des Fortbestehens der „alten“ Frontstellungen“ – eine wägende Sicht ab. Einerseits ist zu berücksichtigen, dass das militante Auftreten von Teilen der Rätebewegung, der Ruf nach der „Diktatur des Proletariats“ und die Berufung auf das Vorbild der bolschewistischen Revolution Befürchtungen nährten, die gerade errungene Demokratie könnte von einer Bewegung mit diktatorischem Machtanspruch erstickt werden. Die Kluft zwischen den Befürwortern einer parlamentarischen Republik auf pluralistischer Grundlage auf der einen und einer sozialistischen Räterepublik auf der anderen Seite war unüberwindlich. Der Riss ging mitten durch die einstmals geeinte Sozialdemokratie und vertiefte sich durch die Konfrontation von SPD und KPD. Andererseits ist zu festzuhalten, dass Mehrheitssozialdemokratie und Gewerkschaften nicht zuletzt unter dem Eindruck der Revolution in Russland die Funktion der Räte in Deutschland verkannten. Durch den Kampf gegen diese Organisationen begaben sie sich eines Teils der eigenen Machtbasis. Die Befürchtungen, bei der Realisierung von Sozialisierungs- und Räteaufbaukonzepten würden wirtschaftliches Chaos, Diktatur einer Minderheit oder der Bürgerkrieg als unausweichliche Folge drohen, gingen – wie heute gesagt werden kann – zumindest teilweise an der Realität vorbei und waren eine der Ursachen dafür, dass durchaus vorhandene Handlungsspielräume nicht voll genutzt wurden. So behielten die un-, wenn nicht antidemokratisch eingestellten Führungsschichten des Kaiserreichs in Verwaltung, Lehre und Justiz, in Militär und auch in Großindustrie und Großlandwirtschaft ihre Führungspositionen, die sie bald zur Aushöhlung der jungen Republik nutzten. Eine konsequentere Wahrnehmung der damaligen Gestaltungsmöglichkeiten zur Eindämmung des politischen Einflusses der Eliten des Kaiserreichs hätte der jungen Republik zumindest in weiten Kreisen der Rätebewegung Zustimmung verschaffen können, die, wie die Abstimmung beim Berliner Rätekongress im Dezember 1918 zeigte, für den Aufbau einer parlamentarischen Republik eintraten. Kaum zu gewinnen wären dadurch allerdings die Anhänger der Spartakusgruppe bzw. der an der Jahreswende 1918/19 gegründeten KPD gewesen. Ob sich bei einer aktiveren Reformpolitik von MSPD und Freien Gewerkschaften aus der KPD, wie in den 1920er Jahren geschehen, eine am Vorbild der Bolschewiki orientierte Massenbewegung entwickelt hätte, muss offen bleiben. Fraglich ist zudem, ob eine konsequentere Reformpolitik nicht die Gefahr einer Zuspitzung des Bürgerkriegs heraufbeschworen hätte. Und ebenfalls unbeantwortet muss die Frage bleiben, ob eine entschiedenere Politik der MSPD auch mit der Flankierung durch die Freien Gewerkschaften wirklich durchsetzbar gewesen wäre; denn auch die Gewerkschaftsbewegung war in sich gespalten, und die Freien Gewerkschaften repräsentierten nur einen, freilich den stärksten Zweig der Gewerkschaftsbewegung. Fraglich ist also, ob die Christlichen Gewerkschaften und die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine – wie dann 1920 beim Kapp-Putsch zugunsten der Weimarer Demokratie – ihre Kraft zur Absicherung einer stärker sozialistisch geprägten Politik gegen Widerstände aus dem bürgerlich-konservativen Lager eingesetzt hätten.