Auch in den 1970er Jahren bleibt es beim Schulterschluss von SED- und FDGB-Führung. Auf ihrem IX. Parteitag, im Mai 1976, verabschiedet die SED ein neues Parteiprogramm, in dem das Ringen um ein hohes Wachstum der Produktion als Bedingung für die ständige Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen zum unumstößlichen Grundsatz der SED erklärt wird.
Angekündigt wird der Ausbau der Sozialpolitik, d.h. im einzelnen die Verstärkung des Wohnungsbaus, die weitere Verkürzung der Arbeitszeit und eine Verbesserung der Familienförderung. Das Leistungsprinzip gilt als „Grundprinzip der Verteilung im Sozialismus“: „Die Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus der Werktätigen wird sich auch weiterhin hauptsächlich über das Arbeitseinkommen als wichtigste Einkommensquelle vollziehen. Dieser Zielstellung entspricht eine leistungsorientierte Lohnpolitik.“
Zur Rolle der Gewerkschaften heißt es im Programm: „Die Gewerkschaften sind die umfassendste Klassenorganisation der Arbeiterklasse. Sie sind Schulen des Sozialismus und der sozialistischen Wirtschaftsführung. Sie tragen als Interessenvertreter der Werktätigen eine große Verantwortung für die allseitige Stärkung der sozialistischen Gesellschaftsordnung und die stabile Entwicklung der sozialistischen Wirtschaft.“ Und weiter: „Im sozialistischen Wettbewerb organisieren die Gewerkschaften die Mitglieder der Arbeitskollektive zum Kampf um hohe Leistungen bei der Erfüllung der volkswirtschaftlichen Aufgaben. Durch ihre gesamte Tätigkeit festigen sie die sozialistische Einstellung zur Arbeit. Einen hervorragenden Platz in der gewerkschaftlichen Interessenvertretung nimmt das Wirken für die ständige Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen ein. Die Gewerkschaften haben einen bedeutenden Anteil an der Gestaltung und Verwirklichung der Sozialpolitik unserer Partei.“
Harry Tisch, seit 1975 FDGB-Vorsitzender, hebt auf dem SED-Parteitag hervor, dass sich aus dem Parteiprogramm qualitativ neue Aufgaben für die Gewerkschaften ergäben. „Sie betreffen unsere Mitwirkung bei der Durchsetzung der Ziele der Wirtschafts- und Sozialpolitik wie auch bei der weiteren Ausprägung der führenden Rolle der Arbeiterklasse und der Vervollkommnung der sozialistischen Demokratie. Die politisch-ideologische Tätigkeit steht dabei im Mittelpunkt unserer gesamten Arbeit.“
Auf dieser Linie liegt es, dass das Zentralkomitee der SED, der Bundevorstand des FDGB und der Ministerrat der DDR am 27. Mai 1976 einen gemeinsamen Beschluss „über die weitere planmäßige Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen im Zeitraum 1976-1980“ fassen. In dem Beschluss, der am 29. Mai in der „Tribüne“ veröffentlicht wird, werden u.a. die Anhebung der Mindestlöhne und Renten, die weitere Förderung berufstätiger Mütter, die schrittweise Einführung der 40-Stunden-Woche und die Verlängerung des Jahresurlaubs angekündigt. Der FDGB-Bundesvorstand sieht diesen Beschluss als Zeichen dafür, „daß es der Partei der Arbeiterklasse, den Gewerkschaften und der Regierung der DDR vor allem um die Befriedigung jener Bedürfnisse des Volkes geht, die von der Mehrheit der Werktätigen als besonders dringend empfunden werden.“
Dabei sind sich FDGB- und SED-Führung einig, was den Zusammenhang von Wirtschafts- und Sozialpolitik anlangt. Sie betonen übereinstimmend, auf dem Weg zur Erfüllung der vom VIII. Parteitag der SED formulierten Hauptaufgabe und des neuen Parteiprogramms der SED erfolgreich vorangekommen zu sein. Auf dem 9. FDGB-Kongress, der vom 16. bis 19. Mai 1977 stattfindet, wird dieser Zusammenhang von Honecker einmal mehr herausgestellt: Es sei „anspornend, wenn man spürt, daß wir uns bei guter Leistung immer mehr leisten können“. Für ihn ist klar: „Wir haben ein Programm des Wachstums, des Wohlstandes und der Stabilität. Dafür lohnt es sich zu arbeiten, zu kämpfen und immer neue Taten zu vollbringen.“
Harry Tisch erklärt bei dieser Gelegenheit die Bereitschaft des FDGB zur Unterordnung unter die sozialistische Partei- und Staatsdoktrin: „Als Organisation der machtausübenden Klasse sind die Gewerkschaften berufen, in der weiteren Etappe unserer gesellschaftlichen Entwicklung auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus als Schulen des Sozialismus und Kommunismus, als Interessenvertreter der Arbeiterklasse und aller Werktätigen die schöpferische Aktivität, das sozialistische Arbeiten, Lernen und Leben der Millionen Gewerkschafter so zu entfalten, daß die Ideen von Marx, Engels und Lenin das Leben in unserem schönen Land immer mehr prägen und ihre Vollendung finden.“ In diesem Sinne dankt der FDGB-Bundesvorstand in seinem Arbeitsbericht den Arbeitnehmern für ihre Leistungen, die sie in den Jahren seit dem VIII. Parteitag der SED im sozialistischen Wettbewerb vollbracht haben. Er ruft dazu auf, diesen Wettbewerb unter Nutzung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts noch konsequenter fortzuführen. Immer sollen sich die Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen bewusst sein: „Dieser Staat ist unser Staat!“ Und der Bundesvorstand gelobt: „Wir werden immer alles für seine Stärkung tun und sind bereit, ihn zu jeder Zeit und zu jeder Stunde zu schützen und zu verteidigen.“
Das Arbeitsgesetzbuch 1978
Am 1. Januar tritt das Arbeitsgesetzbuch in Kraft. Der Entwurf war zuvor, nach langen Beratungen, auf dem 9. FDGB-Kongress 1977 beschlossen und im Juli 1977 von der Volkskammer als Gesetz verabschiedet worden. Darin ist alles festgeschrieben, was für das Arbeitsleben wichtig ist: Das Recht auf Arbeit, die Gleichberechtigung der Frau, der Schutz der Jugend, das Recht auf Bildung, Freizeit und Erholung, das Recht auf materielle Sicherheit sowie die geltenden Arbeitszeit- und Urlaubsregelungen. Und es werden die Rechte der Gewerkschaften beschrieben, die sich weitgehend an den Bestimmungen der Verfassung aus dem Jahre 1974 orientieren.
Danach haben FDGB bzw. die Betriebsgewerkschaftsleitungen folgende Rechte: Das Vereinbarungsrecht - es erlaubt den Abschluss von Vereinbarungen zwischen Betriebsgewerkschaftsleitung und Betriebsleitung etwa zur Arbeitszeitregelung. Das Vorschlagsrecht und Recht zur Stellungnahme – es erlaubt den Gewerkschaften, sich z.B. zum Planentwurf zu äußern. Das Zustimmungsrecht – es garantiert, dass z.B. bei Kündigungen, der Gewährung von Prämien, der Anordnung von Überstunden oder bei der Verwendung der Mittel des Kultur- oder Sozialfonds die Betriebsgewerkschaftsleitungen mitentscheiden. Das Informations- und Rechenschaftsforderungsrecht – es erlaubt dem Vorsitzenden der Betriebsgewerkschaftsleitung, Einsicht in betriebliche Unterlagen zu nehmen. Und schließlich das Kontrollrecht – es verpflichtet die Betriebsgewerkschaftsleitung auf „die Wahrung der Rechte der Werktätigen“ zu achten.