Industrialisierung gräbt die Gesellschaft um

Ausbeutung und Massenelend

Schutzlos sind Arbeiterinnen, Arbeiter und Kinder den Fabrikherren ausgeliefert. Für Hungerlöhne arbeiten sie 14 bis 16 Stunden pro Tag, leben mit ihren Familien in viel zu kleinen Wohnungen. Sie sind unterernährt, die hygienischen Bedingungen verheerend. Krankheiten wie Tuberkulose breiten sich rasant aus.

Die industrielle Revolution führt zu tiefgreifenden Veränderungen in der gesamten Gesellschaft. Handwerker müssen ihre Selbstständigkeit aufgeben, Gesellen und viele Bauern, aus der Leibeigenschaft entlassen, haben keine Existenzgrundlage mehr. Sie verlassen ihre Heimat, ziehen mit ihren Familien in die Städte, um Arbeit zu finden.

Gemälde der Wohnsituation von Arbeiterfamilien um 1840

Die Wohnsituation von Arbeiterfamilien um 1840, Gemälde von Theodor Hosemann

© Gemeinfrei

Neue Ballungsgebiete entstehen. Die Schwerindustrie – standortgebunden an Eisen- oder Kohlevorkommen – beginnt, ganzen Regionen das Gepräge zu geben: Oberschlesien, das Ruhr- und das Saargebiet werden zu Industrielandschaften. Die Zahl der Großstädte nimmt rasch zu. Gibt es um 1800 in Deutschland gerade mal zwei Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern, nämlich Berlin (172.000) und Hamburg (130.000). sind es 1850 drei, 1871 schon acht und im Jahre 1914 schließlich 48.

Schnell gibt es in den industriellen Ballungszentren mehr Arbeitssuchende als Stellen, die Konkurrenz unter Arbeiterinnen und Arbeitern wächst. Eine bequeme Situation für die Fabrikherren: Sie diktieren Arbeitszeit und Löhne: 14 bis 16 Stunden an sechs Tagen pro Woche sind bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Regel. Die Bruttoreallöhne sinken in den 1870er Jahren unter das Niveau der frühen Jahre des 19. Jahrhunderts. Das Trucksystem, sprich die Entlohnung durch Waren statt durch Geld, trägt zur weiteren Verschlechterung der Lage der Arbeiterfamilien bei.

Die soziale Misere spiegelt sich auch in den Wohnverhältnissen: Familien von sechs und mehr Personen wohnen in einem oder zwei Zimmern. Viele sind unterernährt, die hygienischen Bedingungen schlecht. Krankheiten wie Tuberkulose breiten sich aus, die Zahl der Säuglinge, die nach der Geburt sterben, ist hoch. Ausbeutung und Massenelend – das kennzeichnet die ersten Jahrzehnte des industriellen Kapitalismus.

Veränderung der Erwerbsstruktur

Wie sehr der industrielle Kapitalismus Deutschland verändert, lässt sich auch an der Entwicklung der Beschäftigtenzahlen in den einzelnen Wirtschaftsbereichen ablesen.

Der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten verringert sich – gemessen an der Gesamtzahl aller Erwerbstätigen – von 59 im Jahre 1825 über 55 (1850) auf 38 Prozent im Jahre 1914. Im gleichen Zeitraum steigt der Anteil der Gewerbe- und Industriebeschäftigten von 21 über 24 auf 37 Prozent, der im Dienstleistungsbereich Arbeitenden von 17 über 21 auf 25 Prozent.

Wandel der Arbeitsprozesse

So wie die Industrialisierung die natürliche Umwelt und das Leben großer Teile der Bevölkerung verändert, so verwandelt die industrielle Produktionsweise die Arbeitswelt. Arbeiterinnen und Arbeiter in den aufstrebenden Kleinbetrieben, den Manufakturen und Fabriken schuften unter härtesten Bedingungen. Sie bedienen Maschinen, auf deren Tempo sie keinen Einfluss haben, die ihre Arbeit zerstückeln, sie inhaltsleer und eintönig machen. Haben die Menschen früher ein ganzes Produkt hergestellt, sind sie plötzlich nur noch ein Rädchen in einem großen Getriebe. Dazu den ganzen Tag Gefahr für Leib und Leben, Dreck, Krach und Gestank und die völlige Abhängigkeit von den „Fabrikherren”.

Diese Machtverhältnisse im Arbeitsleben führen zu einem tiefen Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit. Es stehen sich gegenüber: Der Arbeitgeber und zugleich Besitzer der Produktionsmittel, auf der anderen Seite der Arbeitnehmer, dem weder Maschinen, Werkzeuge, Rohmaterialien und erst recht nicht die Produkte gehören, die er herstellt.

Bald wächst die Zahl derer, die sich ihrer wirtschaftlichen und sozialen Abhängigkeit bitter bewusst werden und in den Arbeitgebern ihre Interessengegner sehen. Doch der Gegensatz von Kapital und Arbeit führt mitnichten zu einer geschlossen handelnden „Arbeiterklasse”. Die Arbeiterschaft ist und bleibt gespalten – unter anderem nach sozialer Herkunft, Geschlecht, Beruf, Branche, Einkommen, Religion, politischer Überzeugung, Alter, Familienstand und Wohnort. All diese Faktoren formen das individuelle politische Bewusstsein – nicht nur der Grundwiderspruch von Kapital und Arbeit.

Kinderarbeit - Symbol rücksichtloser Ausbeutung

Angesichts der niedrigen Einkommen der Familien, müssen auch Kinder arbeiten, um einen Beitrag zum kargen Familienunterhalt zu leisten. Und da Maschinenarbeit als leichte Arbeit gilt, nutzen die Unternehmen diese Not skrupellos aus. Massenhaft heuern sie Kinder für die Arbeit in den Fabriken und Bergwerken an, für noch geringere Löhne als die der Arbeiterinnen und Arbeiter. Ein eindrucksvolles Beispiel für diese Skrupellosigkeit sind die Baumwollspinnereien in Sachsen: Dort stellen Kinder unter 14 Jahren in den 1830er fast ein Drittel der Belegschaft. Kinderarbeit wird zum Symbol der rücksichtslosen Ausbeutung.

Bild von der Kinderarbeit im 19. Jahrhundert

Kinderarbeit in der Textilindustrie, um 1850

© AdsD/B001789

Das geht offensichtlich selbst dem Staat zu weit. Es sind allerdings nicht moralische Gründe, die Preußen zum Eingreifen bewegen. Es ist das Militär, das auf die Einschränkung der Kinderarbeit drängt. Es fürchtet, dass nicht ausreichend gesundes „Rekrutenmaterial” zur Verfügung steht. 1839 wird in Preußen die Kinderarbeit eingeschränkt.  Da diese Auflagen nicht überall erfüllt werden, erhält die Polizei mit der Preußischen Gewerbeordnung vom Januar 1845 die Weisung, darauf zu achten, dass bei der Beschäftigung von Handwerksgesellen und Lehrlingen Rücksicht auf die „Wahrung von Gesundheit und Sittlichkeit” genommen wird.

Preußische Gewerbeordnung vom 17. Januar 1845 (pdf)

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