Mehr Mitglieder, mehr Einnahmen

Ab 1923: Gewerkschaften im Aufschwung

Die Wirtschaft erholt sich, die Gewerkschaften werden stärker. Dank einiger Erfolge in der Tarif- und Sozialpolitik gewinnen sie rasch neue Mitglieder und ihre Organisationen, durch die Inflation stark geschwächt, werden wiederaufgebaut. Doch das Hoch ist von kurzer Dauer: Die Konflikte mit den Arbeitgebern verschärfen sich, der Einfluss auf die Politik bleibt begrenzt.

Gewerkschaftshaus der Freien Gewerkschaften in Breslau, vor 1933

© AdsD/B042535

Nach den Mitgliederverlusten der Inflationsjahre können sich die Gewerkschaften langsam wieder erholen, am deutlichsten die Freien Gewerkschaften. Sie behaupten mit insgesamt fünf Millionen Mitgliedern unangefochten ihre Führungsposition, vor den christlichen Gewerkschaften und den liberalen Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen.

Dank dieses Zulaufs können die Gewerkschaften ihre Organisationsstrukturen ausbauen und die Arbeit professionalisieren. Jugend, Frauen, Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit werden verbessert und die zahlreichen gemeinnützigen und genossenschaftlichen Unternehmen florieren. Gewerkschaften aller Richtungen betätigen sich verstärkt als „Unternehmer”, was nicht ohne Einfluss auf das Selbstverständnis, insbesondere der Freien Gewerkschaften, bleibt. Schließlich, so Bernhard Meyer von der „Bank der Arbeiter, Angestellten und Beamten AG”,  könne ein gewerkschaftliches Unternehmen „nicht gegen die Gesetze und Methoden des Kapitalismus verstoßen, solange dieser die beherrschende Stellung einnimmt”.

Auch die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Gewerkschaften verbessert sich. Die Bedrohung der Weimarer Republik in den Anfangsjahren, die Arbeit der Betriebsräte und der zunehmende Druck der Arbeitgeber tragen zur Annäherung in der Tagesarbeit bei. Tarifverhandlungen und Arbeitskämpfe werden überwiegend gemeinsam geführt, die sozialpolitischen Forderungen gleichen sich. Gemeinsam können sie wichtige Erfolge erzielen: Die Reallöhne steigen und der Anspruch auf bezahlte Urlaubstage wird in Tarifverträgen vereinbart. Allerdings bei der Arbeitszeit müssen sie Federn lassen: Die Arbeitszeitverordnung vom Dezember 1923 gestattet den Arbeitgebern die Ausweitung der wöchentlichen Arbeitszeit. Für mehr als die Hälfte der Arbeiterinnen und Arbeiter geht die 48-Stunden-Woche verloren.

Wichtigster sozialpolitischer Erfolg ist ohne Zweifel das Gesetz für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG), das am 1. Oktober 1927 in Kraft tritt. Von Freien und Christlichen Gewerkschaften gemeinsam entworfen, ist es wegweisend für die Zukunft: Es überträgt die Aufgaben an die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, in der Arbeitnehmer, Arbeitgeber und öffentliche Hand gleichberechtigt mitwirken. Für die Beiträge zur Versicherung kommen zu je 50 Prozent Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf, die Arbeitnehmer haben einen Rechtsanspruch auf die Versicherungsleistungen.

Grenzen der Gemeinsamkeit

Mit der Gründung der „Zentralarbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Deutschlands” (ZAG) und den neuen, in der Verfassung verankerten Mitwirkungsrechten sehen sich die Richtungsgewerkschaften am Ziel ihrer Wünsche. Alle drei müssen jedoch bald erkennen, dass Arbeitgeber und Politik nicht wirklich gewillt sind, die Macht zwischen Kapital und Arbeit gleichberechtigt zu teilen. Das belebt die Debatte um die Wirtschaftsdemokratie neu. Dabei treten die politischen Unterschiede deutlicher zu Tage: Während die Christlichen Gewerkschaften und die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine für die „Gleichberechtigung der Arbeitnehmer in Wirtschaft und Staat“ durch „Mitbesitz und Mitbestimmung“ eintreten, fordern die Freien Gewerkschaften die „Demokratisierung der Wirtschaft“.

Auch das Verhältnis der Gewerkschaften zur Weimarer Republik bleibt ambivalent: Die Freien Gewerkschaften bejahen die parlamentarische Demokratie vielfach „nur”, weil sie die besten Bedingungen zum Aufbau einer sozialen Demokratie bzw. des Sozialismus biete, die anderen Gewerkschaften lehnen dies strikt ab. Die Christlichen Gewerkschaften können sich nicht einmal zu einem klaren Bekenntnis für die Republik durchringen. Sie plädieren für einen „sozialen Volksstaat“, der sowohl in einer Republik als auch in einer Monarchie realisiert werden könne.

Dennoch kommt es in diesen Jahren zu einer gewissen Kooperation von Gewerkschaften, Arbeitgebern und Staat. Diesem „Weimarer Pluralismus” bleibt jedoch keine Zeit, solide Traditionen und belastbare Strukturen zu entwickeln.

Seiten dieses Artikels:

1923 - 1930

Positive Mitgliederentwicklung aller Gewerkschaften: Die Kurve zeigt nach oben
Annäherung der Richtungsgewerkschaften: Mehr Gemeinsamkeiten als Gegensätze
Lohn, Arbeitszeit, Urlaub: Tarifkonflikte nehmen an Schärfe zu

Themen und Aspekte dieser Epoche:

Hartes Leben schweißt zusammen: Arbeitermilieus in der Weimarer Republik
Die Christlichen Gewerkschaften bestehen auf Eigenständigkeit
Die Freien Gewerkschaften fordern mehr Demokratie in der Wirtschaft
Der Ruhreisenstreit 1928 um höhere Löhne - und die ersten Massenaussperrungen

 

Verfügbare Statistiken für diese Epoche:
Arbeitslosigkeit, Arbeitszeit, Arbeitskämpfe, Löhne, Mitgliederentwicklung der Gewerkschaften, Strukturdaten zur Erwerbsbevölkerung.

Tabellen als einzelne pdf-Dokumente finden Sie auf dieser Seite:
Downloadmöglichkeit der Tabellen aller Epochen 

Den kompletten Tabellensatz mit allen Statistiken  laden Sie hier als Excel-Dokument,.

Quellen- und Literaturhinweis

4. Freiheitlich-nationaler Kongress des Gewerkschaftsrings deutscher Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenverbände am 15. bis 17. November 1930 in Berlin, Berlin o. J.

Bieber, Hans-Joachim, Gewerkschaften in Krieg und Revolution. Arbeiterbewegung, Industrie, Staat und Militär in Deutschland 1914-1920, 2 Bde., Hamburg 1981

Der Generalstreik gegen den Monarchistenputsch, in: Korrespondenzblatt Nr. 12/13 vom 27.3.1920, S. 152 f.

Die Vereinbarung mit den Unternehmerverbänden, in: Correspondenzblatt Nr. 47 vom 23.11.1918, S. 425

Führer, Karl Christian, Jürgen Mittag, Axel Schildt u. Klaus Tenfelde (Hrsg.), Revolution und Arbeiterbewegung in Deutschland 1918-1920, Essen 2013

Hartwich, Hans‑Hermann, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat 1918-1933. Die öffentliche Bindung unternehmerischer Funktionen in der Weimarer Republik, Berlin 1967

Heyde, Ludwig (Hrsg.), Internationales Handwörterbuch des Gewerkschaftswesens, 2 Bde., Berlin 1931/32

Laubscher, Gerhard, Die Opposition im Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) 1918-1923, Frankfurt 1979

Miller, Susanne, Die Bürde der Macht. Die deutsche Sozialdemokratie 1918-1920, Düsseldorf 1978

Mühlhausen, Walter, Friedrich Ebert 1871-1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn 2007

Oertzen, Peter von, Betriebsräte in der Novemberrevolution. Eine politikwissenschaftliche Untersuchung über Ideengehalt und Struktur der betrieblichen und wirtschaftlichen Arbeiterräte in der deutschen Revolution 1918/19, 2., erw. Aufl., Berlin-Bonn‑Bad Godesberg 1976

Petzina, Dietmar, Werner Abelshauser u. Anselm Faust., Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch III. Materialien zur Statistik des Deutschen Reiches 1914-1945, München 1978

Plener, Ulla (Hrsg.), Die Novemberrevolution 1918/19 in Deutschland. Für bürgerliche und sozialistische Demokratie. Allgemeine, regionale und biographische Aspekte, Berlin 2009

Potthoff, Heinrich, Gewerkschaften und Politik zwischen Revolution und Inflation, Düsseldorf 1979

Preller, Ludwig, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, Stuttgart 1949; unveränd. Nachdr. Kronberg-Düsseldorf 1978

Protokoll der Verhandlungen des 10. Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands, abgehalten zu Nürnberg vom 30. Juni bis 5. Juli 1919, Berlin o. J.

Protokoll der Verhandlungen des 11. Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands (1. Bundestag des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes), abgehalten zu Leipzig vom 19. bis 24. Juni 1922, Berlin 1922

Reichert, Jakob Wilhelm Reichert, Entstehung, Bedeutung und Ziel der „Arbeitsgemeinschaft”, Berlin 1919

Ruck, Michael, Die Freien Gewerkschaften im Ruhrkampf 1923, Köln 1986

Schneider, Michael, Die Christlichen Gewerkschaften 1894-1933, Bonn 1984

Schwarz, Salomon, Handbuch der deutschen Gewerkschaftskongresse (Kongresse des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes), Berlin 1930

Sitzung des Ausschusses des Gesamtverbandes, in: Zentralblatt Nr. 23 vom 4.11.1918, S. 190-192

Stegerwald, Adam, Die christlich-nationale Arbeiterschaft und die Lebensfragen des deutschen Volkes, in: Niederschrift der Verhandlungen des 10. Kongresses der christlichen Gewerkschaften Deutschlands, abgehalten vom 20. bis 23. November 1920 in Essen, Köln 1920, S. 183 ff.

Ullrich, Volker, Die Revolution von 1918/19, München 2009

Vereinbarung zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden, in: Zentralblatt Nr. 25 vom 2.12.1918, S. 202 f.

Winkler, Heinrich August, Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, 2. Aufl., Berlin u. Bonn 1985

Schlaglichter
  • Erste Arbeitslosenversicherung 
  • Stabilere Gewerkschaften
  • Blütezeit der gewerkschaftlichen Unternehmen
  • Bessere Zusammenarbeit der Richtungsgewerkschaften

Hören:
Theodor Leiphart

Der Vorsitzende des ADGB spricht anlässlich der Reichstagswahl 1928 unter anderem zum Sozialstaat: "Die Mitglieder der Gewerkschaften werden mit gutem Beispiel vorangehen, sie werden keine andere Partei wählen als die Sozialdemokratie." (3,19 Minuten)
© Bild und Ton: AdsD 

Seite drucken Seite bei Facebook teilen Seite bei Twitter teilen