Die geradezu selbstverständliche Einheit von Freier Gewerkschaftsbewegung und Sozialdemokratischer Partei, die sich unter dem Druck des Sozialistengesetzes entwickelt hat, hält zwar an, sie wird jedoch belastet von einer Reihe von Konflikten.
Zunächst ist die Sache klar: Da ist einerseits der uneingeschränkte Führungsanspruch der SPD, der 1891 im Erfurter Parteiprogramm auf die eingängige Formel gebracht wird, der Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung ist „notwendigerweise ein politischer Kampf”. Und weiter heißt es: „Diesen Kampf der Arbeiterklasse zu einem bewussten und einheitlichen zu gestalten und ihm sein naturnotwendiges Ziel zu weisen – das ist die Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei.”
Auf der anderen Seite sehen die Gewerkschaften angesichts der Krise, in der sie Anfang der 1890er Jahre stecken, offenbar kaum eine andere Möglichkeit, als die ihnen zugewiesene Rolle einer „Rekrutenschule” für die politische Arbeiterbewegung hinzunehmen. Geradezu bescheiden treten die Gewerkschaften 1891 mit einer Stellungnahme Carl Legiens hinter der politischen Partei zurück, die „eine Umgestaltung der gegenwärtigen Gesellschaftsorganisation anstrebt”, während die Gewerkschaftsbewegung „in ihren Bestrebungen, weil die Gesetze [ihr] hierin Grenzen ziehen, auf dem Boden der heutigen bürgerlichen Gesellschaft steht”. Die Gewerkschaften seien also – so Carl Legien auf dem Kölner SPD-Parteitag 1893 – die „Vorschule für die politische Bewegung” und damit die „beste Erziehungsanstalt für die Genossen”.
Wachsendes Selbstbewusstsein der Freien Gewerkschaften
Mit dem Aufschwung der Gewerkschaften und vor allem mit ihren sozialen Erfolgen, die sie in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre erkämpfen, wird das zunächst so harmonische Unterordnungsverhältnis von Partei und Gewerkschaften zum Problem. Ein neues Selbstbewusstsein setzt sich in den Gewerkschaften durch, das die wichtigste sozialdemokratische Zukunftserwartung – die Notwendigkeit des Zusammenbruchs des Kapitalismus – infrage stellt: „Gerade wir, die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter, wünschen nicht, dass es zum sogenannten Kladderadatsch kommt und dass wir genötigt sind, auf den Trümmern der Gesellschaft Einrichtungen zu schaffen, gleichviel ob sie besser oder schlechter sind, wie die jetzigen. Wir” – so erklärte Carl Legien 1899 auf dem Frankfurter Gewerkschaftskongress – „wünschen den Zustand der ruhigen Entwicklung.”
Antwort der SPD
Die SPD-Führung trägt diesem neuen Bewusstsein, das im Übrigen auch in der Partei auf dem Vormarsch ist und zur Revisionismusdebatte führt, behutsam Rechnung. In einer 1900 veröffentlichten programmatischen Schrift über „Gewerkschaftsbewegung und politische Parteien” distanziert sich Bebel von seiner früheren Ansicht, Gewerkschaften seien die „Rekrutenschule” der Partei. Und mit Blick auf den Erfolg der Gewerkschaften heißt es nun in einer Analyse Karl Kautskys, des maßgeblichen Parteitheoretikers vor dem Ersten Weltkrieg: „Die politischen Organisationen des Proletariats werden stets nur eine kleine Elite umfassen; Massenorganisationen können nur die Gewerkschaften bilden. Eine sozialdemokratische Partei, deren Kerntruppen nicht die Gewerkschaften bilden, hat daher auf Sand gebaut.” Und Kautsky fährt fort: „Aber die Sozialdemokratie hat stets dahin zu trachten, dass die Mitglieder der gewerkschaftlichen Organisation von sozialistischem Geiste erfüllt sind. Die sozialistische Propaganda unter den Gewerkschaften hat Hand in Hand zu gehen mit der Propaganda für die Gewerkschaften in der Parteiagitation.” Dass die sozialistische Ausrichtung der Gewerkschaften der Partei zur Aufgabe gemacht wird, sollte wohl der reform-orientierten Ausrichtung der Gewerkschaften entgegenwirken.
Massenstreikdebatte 1905/06
Zur (vorläufigen) Klärung des Verhältnisses von SPD und Freien Gewerkschaften kommt es in der Massenstreikdebatte, wobei nicht zu übersehen ist, dass es in beiden Organisationen auch Vertreter der jeweils anderen Position gibt. Vor allem der erfolgreiche Streik für das allgemeine Wahlrecht in Belgien und Schweden verleiht der Debatte um den Massenstreik zur Durchsetzung sozialistischer Forderungen Aufwind. Die Gewerkschaften jedoch, die – nicht ohne Berechtigung – glauben, ein Massenstreik müsse von ihnen organisiert werden, sehen ihre Position dadurch grundsätzlich gefährdet: Der Kölner Gewerkschaftskongress vom Mai 1905 erklärt – gegen 7 Stimmen – „alle Versuche, durch die Propagierung des politischen Massenstreiks eine bestimmte Taktik festlegen zu wollen, für verwerflich”.
Die unterschiedlichen Meinungen von SPD und Gewerkschaften in dieser Frage, die Theodor Bömelburg auf dem Kölner Kongress mit der Formel „Gewerkschaften und Partei sind eins” zu beschönigen versucht, werden vollends sichtbar, als der SPD-Parteitag, der wenige Monate später, vom 17. bis 23. September 1905, in Jena tagt, eine von Bebel eingereichte Resolution mit 287 gegen 14 Stimmen annimmt: Hier wird der politische Massenstreik zwar nicht als offensives Kampfmittel, wohl aber zur Abwehr gegen etwaige Anschläge auf das Wahl- und Koalitionsrecht gewürdigt.
Resolution des Gewerkschaftskongresses in Köln im Mai 1905 (pdf)
Resolution des SPD-Parteitages in Jena im September 1905 (pdf)
Das „Mannheimer Abkommen“ 1906
Im Februar 1906 nehmen Gewerkschafts- und Parteiführung geheime Verhandlungen auf, um den Konflikt in der Massenstreikfrage beizulegen. Ergebnis dieser Beratungen ist das „Mannheimer Abkommen”, das auf dem Parteitag, der vom 23. bis 29. September 1906 in Mannheim tagt, verabschiedet wird. Die Vorstände von Gewerkschaftsbewegung und SPD haben, so wird in diesem Abkommen festgelegt, „bei Aktionen, die die Interessen der Gewerkschaften und der Partei gleichmäßig berühren, ein einheitliches Vorgehen herbeizuführen”.
Dieses Dokument der Gleichberechtigung von Partei- und Gewerkschaftsführung innerhalb der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung spiegelt das Kräfteverhältnis zwischen Partei und Gewerkschaften wider. Denn ein Massenstreik ist ohne die Gewerkschaften nicht möglich. Das zeigen auch die Mitgliederzahlen: 1906 haben die Sozialdemokraten 384.000 Mitglieder, die Gewerkschaften etwa 1,7 Millionen.
Resolution des SPD-Parteitages 1906 in Mannheim („Mannheimer Abkommen“) (pdf)
Erneutes Aufflackern des Konflikts 1912/13
In den Jahren nach dem „Mannheimer Abkommen” versuchen SPD-Theoretiker immer wieder, den Stellenwert gewerkschaftlicher Arbeit zu bestimmen, nicht zuletzt, um sich dem Einfluss der Gewerkschaften entgegenzustemmen, den die ständig wachsende Zahl von „Gewerkschaftsbeamten” unter den Parteitagsdelegierten ausübt. Das lässt sich auch an Zahlen ablesen: der Anteil der Gewerkschaftsfunktionäre an der SPD-Reichstagsfraktion steigt von 11,6 Prozent im Jahre 1893 auf 32,7 Prozent im Jahre 1912 an.

Übt scharfe Kritik an der Gewerkschaftsbürokratie: Rosa Luxemburg - hier mit Clara Zetkin (l.) auf dem Weg zum Magdeburger Parteitag 1910
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Am härtesten fällt die Kritik Rosa Luxemburgs aus. Nachdem sie die Gewerkschaftspolitik 1899 unter dem Titel „Sozialreform oder Revolution“ „als zwar unentbehrliche, aber auf Dauer erfolglose „Sisyphusarbeit” abgewertet hat, spitzt sie 1906 in ihrer Schrift zu „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“ den Konflikt zu: Durch die „geschäftsmäßige bürokratisch geregelte Leitung des Gewerkschaftsbeamten” werde die Arbeiterschaft „zur urteilsunfähigen Masse degradiert, der hauptsächlich die Tugend der ,Disziplin’, das heißt des passiven Gehorsams, zur Pflicht gemacht wird”. Auch Karl Kautsky sieht sich genötigt, auf die Grenzen der gewerkschaftlichen Politik hinzuweisen. In seinen 1909 veröffentlichten Überlegungen „Der Weg zur Macht“ sieht er, angesichts nicht mehr weiter steigender Reallöhne, den mit reformistischen Mitteln der Gewerkschaften erreichbaren sozialen Aufstieg des Proletariats als beendet an.
Die Gewerkschaften sind empört. Sie sehen darin nicht (nur) eine Kritik an der Entwicklung des Kapitalismus, sondern zugleich einen Vorwurf an ihre Adresse. Die Generalkommission antwortet unter dem bezeichnenden Titel „Sisyphusarbeit oder positive Erfolge?” mit „Beiträgen zur Wertschätzung der Tätigkeit der deutschen Gewerkschaften”.
Als, ausgelöst durch die Forderungen Rosa Luxemburgs, der SPD-Parteitag in Jena 1913 nochmals die Massenstreikfrage debattiert, verläuft die Frontlinie nicht mehr zwischen Gewerkschaften und SPD, sondern quer durch die SPD, zwischen Parteivorstand und linkem Flügel. Nachdem sich Philipp Scheidemann als Referent der Parteiführung gegen die Ansicht gewandt hat, „man könne den Massenstreik vorbereiten durch die Lockerung der gewerkschaftlichen Disziplin, durch das Ausspielen der Massen gegen die Führer, durch die Verherrlichung der unorganisierten Masse”, stellt sich Gustav Bauer, der stellvertretende Vorsitzende der Generalkommission, auf den Standpunkt, die Gewerkschaften hätten „keine Veranlassung, sich mit dieser Diskussion zu befassen”.
Die von Rosa Luxemburg eingebrachte Resolution, nach der der Massenstreik „nicht auf Kommando von Partei- und Gewerkschaftsinstanzen künstlich herbeigeführt werden”, sondern „sich nur als Steigerung einer bereits im Fluß befindlichen Massenaktion aus der Verschärfung der wirtschaftlichen und politischen Situation ergeben” könne, wird daraufhin mit 333 gegen 142 Stimmen abgelehnt. Mit zwei Gegenstimmen angenommen wird stattdessen eine Resolution, in der der politische Massenstreik vom Ausbau der politischen und gewerkschaftlichen Organisationen abhängig gemacht wird. Deutlicher können die Veränderungen im Verhältnis von SPD und Gewerkschaften und in der sozialdemokratischen Politik kaum ausgedrückt werden.
Antrag Rosa Luxemburgs zum politischen Massenstreik auf dem SPD-Parteitag 1913 in Jena (pdf)
Resolution des SPD-Parteitages 1913 in Jena (pdf)