Ein Blick nur auf die Organisationsarbeit und nur auf die Kongress- und Pressefehden ließe ein falsches Bild entstehen. Denn die „eigentliche“ Gewerkschaftsarbeit im Kaiserreich ist der alltägliche Kampf gegen soziale und wirtschaftliche Missstände, gegen rechtliche Benachteiligungen der Arbeiterschaft und ihrer Organisationen und gegen ihre gesellschaftliche Ausgrenzung.
Schon in der Gründungsphase der Gewerkschaften zeigt sich die große Bedeutung, die dem Arbeitskampf als Motor der Organisation beizumessen ist. Das ändert sich auch in der späteren Entwicklung nicht, steigen doch die Mitgliederzahlen kurz vor erwarteten Arbeitskämpfen oftmals dramatisch an. Und auch wenn ein Teil der neugewonnenen Mitglieder bald nach dem Ende des Konflikts der Gewerkschaft wieder den Rücken kehrt, so ist doch zumeist eine Steigerung der Mitgliederzahl zu verzeichnen.
Den Gewerkschaften aller Richtungen ist klar, dass der Streikerfolg nicht nur von der wirtschaftlichen Lage in dem betroffenen Gewerbezweig, sondern ganz maßgeblich von der Stärke der Arbeitsmarktparteien und damit von Organisationsgrad und finanzieller Kraft der Gewerkschaften abhängig ist.
Dies wird durch die Zahlen deutlich belegt: In den Jahren wirtschaftlicher Krise und schwacher Gewerkschaftsorganisation von 1890 bis 1894 sind von 544 Streiks der Freien Gewerkschaften nur 32,9 Prozent erfolgreich, eine Angabe der Gewerkschaften, die unter Umständen noch geschönt ist. Von den in einer Phase wirtschaftlicher Entwicklung und steigender gewerkschaftlicher Organisationsstärke von 1895 bis 1899 geführten 3.226 Streiks sind hingegen 57,8 Prozent erfolgreich für die Arbeitnehmerschaft. Deshalb wird in der Presse der Freien Gewerkschaften dafür plädiert, zunächst einmal die Organisation zu stärken – und überdies mehr Vernunft in der „Taktik bei Lohnbewegungen” walten zu lassen. Nach der „Sturm- und Drangperiode” von spontanen Proteststreiks sollen die Gewerkschaften nun, so heißt es 1897, „System in ihre Kriegsführung [. . .] bringen”. Die Streikreglements, die den Arbeitskampfbeschluss möglichst überörtlichen Gremien übertragen, befolgen und verstärken diese Entwicklung, die einerseits die Schlagkraft der Organisation durch rationalen Einsatz der Mittel erhöht, die aber andererseits vielfach den Eindruck der Basis-Ferne der Gewerkschaftsvorstände verfestigt.
Ohne Zweifel nehmen Zahl und Bedeutung örtlicher Spontan-Streiks ab. Es gibt sie zwar noch – und immer wieder: Zu denken ist an den 1896 von der Berliner Konfektionsindustrie ausgehenden Streik, an den Ausstand der Hamburger Hafenarbeiter 1896/97 und an den Streik der Ruhrbergarbeiter 1905. Diese Streiks werden entweder gegen oder ohne gewerkschaftliche Willensäußerung begonnen, von den Gewerkschaften aber zum Teil nachträglich übernommen. Der Trend geht jedoch eindeutig zu den gut organisierten Arbeitskämpfen, in denen sich bald Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände gegenüberstehen.
Christliche Gewerkschaften: Keine Kirchenknechte
Hat der Arbeitskampf im „Weltbild” der Freien Gewerkschafter ohnehin seinen festen Platz, so bedeutet es für die Christlichen Gewerkschafter eine bittere Erfahrung, dass die Arbeitgeber keineswegs bereit sind, ihren arbeitsgemeinschaftlichen Vorstellungen entgegenzukommen. Petitionen werden nicht beantwortet, Verhandlungsangebote zurückgewiesen. Die Christliche Gewerkschaftsbewegung wird also keineswegs bevorzugt. Eher im Gegenteil: Sie wird als eine besonders raffinierte Variante der Arbeiterbewegung eingestuft, die letztlich die Arbeiter der Sozialdemokratie in die Arme führen werde.
So werden die Christlichen Gewerkschaften schon in der Gründungsphase in zahlreiche Arbeitskämpfe verwickelt, wobei es die Arbeitgeber mit ihren Aussperrungen bewusst darauf anlegen, die jungen Organisationen zum Zusammenbruch zu bringen. Die Christlichen Verbände beteiligen sich jedoch oftmals an den Streiks, um dem Ruf entgegenzuwirken, wirtschaftsfriedliche „Unternehmerknechte” bzw. „Kirchenknechte” zu sein. Bezogen auf die (geringen) Unterstützungsausgaben – die Beiträge sind aus Werbegründen zunächst sehr niedrig – übersteigt der Anteil der Ausgaben für Arbeitskämpfe den der Freien Gewerkschaften.
Erst nach 1905/06 – in der Konsolidierungsphase – pendeln sich Beiträge und Ausgaben für Unterstützungswesen und Arbeitskämpfe in etwa auf dem Niveau der Freien Gewerkschaften ein. Allerdings blieb der Anteil der Christlichen Gewerkschaftsmitglieder, die an Arbeitskämpfen beteiligt sind, zunehmend deutlich hinter dem der Freien Gewerkschaften zurück.