Angesichts der unterschiedlichen Stärke der Gewerkschaften ist es nicht verwunderlich, dass es immer wieder zu Konflikten um Aufgaben und Einfluss des DGB kommt.
Während kleinere Gewerkschaften, zu deren Sprecher sich z. B. Georg Leber von der IG Bau, Steine, Erden macht, für eine Stärkung des DGB eintreten, sehen die Vertreter großer Verbände, allen voran Otto Brenner von der IG Metall, darin eher eine Schwächung des eigenen Einflusses. Auf dem DGB-Kongress in Stuttgart 1959 treffen die gegensätzlichen Positionen aufeinander. Zu konkreten Beschlüssen kommt es nicht, die Reform wird vertagt.
Drei Jahre später, 1962 auf dem Kongress in Hannover, werden zahlreiche Satzungsänderungen verabschiedet. Eine durchgreifende Reform zur Vereinheitlichung der Struktur der Einzelgewerkschaften und zur Stärkung des Dachverbandes kommt indessen nur behutsam zustande: So erhält der Geschäftsführende DGB-Bundesvorstand die Erlaubnis, „in Fragen von besonderer Bedeutung die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, wenn die Entscheidung unaufschiebbar ist”. Außerdem wird in § 3 der Satzung festgelegt, dass nicht mehr nur für den DGB, sondern „für die Gewerkschaften [. . .] die Beschlüsse und Richtlinien des Bundeskongresses, des Bundesausschusses und des Bundesvorstandes bindend” seien.

Stehen für unterschiedliche Positionen in den Gewerkschaften (v.l.): Otto Brenner (IG Metall) und Georg Leber (IG Bau)
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Gerade mit Blick auf die sich in den 1960er Jahren regenden Bestrebungen zur Stärkung der innerverbandlichen Demokratie kann aber die Festigung der Position des DGB-Bundesvorstandes gegenüber seinen Untergliederungen als problematisch gelten. So werden die Direktionsbefugnisse des Bundesvorstandes gegenüber den DGB-Kreisen und -Landesbezirken erweitert. Insbesondere fällt auf, dass die gewählten Landesbezirks- und Kreisvorstandsmitglieder u. U. vom Bundesvorstand abgesetzt werden können. Außerdem verlieren die DGB-Kreise ihr direktes Antragsrecht zum Bundeskongress. Damit wird die DGB-Organisation zwar zentralisiert, ob dies eine Stärkung der Organisation bedeutet, ist jedoch fraglich.
Neues Grundsatzprogramm 1963
Nachdem sich die SPD anschickt, mit dem Godesberger Programm 1959 den politischen und sozialen Veränderungen in Westdeutschland Rechnung zu tragen, beschließt der DGB-Kongress 1959 in Stuttgart, ebenfalls ein neues Programm zu erarbeiten. Wie bei den Beratungen zur Satzungsreform treten vor allem diejenigen, die die Macht des DGB stärken wollen, für eine Neuorientierung der Programmatik ein. Vor allem Georg Leber will die Gewerkschaften – mit dem Rückenwind des Godesberger SPD-Programms – auf die Anerkennung der demokratischen Republik und der gegebenen Wirtschaftsordnung verpflichten. Sozialpartnerschaft und konsequente wirtschaftliche Interessenvertretung auf dem Boden der gegebenen Verhältnisse ist seine Devise. Unterstützung findet Leber insbesondere bei Heinrich Gutermuth von der IG Bergbau und Energie und beim Vorstand des DGB, an dessen Spitze 1962 Ludwig Rosenberg gewählt wird.
Bereits im Vorfeld des Programmkongresses widerspricht Otto Brenner für die IG Metall den Bestrebungen zur Programmreform. Anders als für Leber und Rosenberg besteht für Brenner die Klassengesellschaft weiter. Er zieht – in seiner Rede auf dem IG Metall-Kongress 1958 – daraus den Schluss, man müsse an den Forderungen des Münchener Programms „nach Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeinwirtschaft, nach Mitbestimmung und volkswirtschaftlicher Planung” festhalten.
Auf dem 6. DGB-Kongress 1962 in Hannover prallen die politischen Gegensätze aufeinander, und zwar in der Debatte zur Notstandsgesetzgebung. Die Programmdebatte wird hingegen auf einen außerordentlichen Kongress vertagt, da bisher keine ausreichende Diskussion des Programm-Entwurfs in den gewerkschaftlichen Untergliederungen möglich gewesen sei.
Die folgenden Monate werden in der Tat für die Diskussion genutzt. Dem Düsseldorfer DGB-Kongress, der 1963 tagt, liegen 262 Abänderungsanträge vor, die sich vielfach gegen die von manchem Antragsteller bemängelte Anpassung an die gegebenen Verhältnisse wenden. Der Einfluss der kritischen Anträge zeigt sich z. B. in der Präambel des neuen Grundsatzprogramms, in der betont wird, dass die „kapitalistische Wirtschaftsordnung dem Arbeitnehmer die gesellschaftliche Gleichberechtigung verwehrt, seine Person der Willkür des Unternehmers unterworfen, seine Arbeitskraft dem Marktgesetz ausgeliefert, seine soziale Sicherheit dem Gewinnstreben untergeordnet hat, soziale Mißstände und Krisen verursacht”. Dennoch basiert das Programm auf einer weit gehenden Anerkennung der Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur, die sich in der Nachkriegszeit entwickelt hat.
Das Bekenntnis zur „sozialen Marktwirtschaft” wird jedoch ergänzt durch die Forderung nach staatlichen Lenkungsmaßnahmen von der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung bis hin zur Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien als ein Mittel der Wirtschaftspolitik, die eine der freien Entfaltung des einzelnen und der Menschenwürde entsprechende Wirtschaftsordnung herzustellen verpflichtet sei. Die paritätische Mitbestimmung gehört zudem zu den zentralen ordnungspolitischen Forderungen. Anknüpfend an die Ideen einer antizyklischen Konjunkturpolitik gehen die Gewerkschaften davon aus, die Krisen der Wirtschaftsentwicklung seien mit entsprechend gegensteuernden Aktivitäten staatlicher Wirtschaftspolitik abzuschwächen, wenn nicht zu vermeiden.
Präambel des DGB-Grundsatzprogramms vom November 1963 (pdf)
Die wirtschafts- und sozialpolitischen Grundsätze von 1949 werden außerdem durch kulturpolitische Zielbestimmungen ergänzt. Ausgehend von dem Grundgedanken, eine Demokratisierung der Gesellschaft sei nur möglich, wenn auch das Bildungswesen demokratisiert werde, werden im Grundsatzprogramm sowohl zur beruflichen Bildung als auch zur Bildung in Schule und Hochschule Reformen gefordert, die die Durchlässigkeit der Bildungswege und Chancengleichheit verwirklichen sollen.
Das Grundsatzprogramm ist nicht „aus einem Guss”: Thesenhafte Kapitalismuskritik einerseits, Anerkennung der marktwirtschaftlichen Ordnung andererseits stehen im Programm nebeneinander, ohne dass sie zu einem einheitlichen Gesellschaftsmodell oder gar einer geschlossenen Strategieplanung verbunden wären. Die Gewerkschaften versuchen mit diesem Programm, „auf der Höhe der Zeit” zu sein und lassen sich dabei von einem Optimismus über die Vermeidbarkeit kapitalistischer Krisen und über die Chancen eines sozialen Ausgleichs tragen, der erst recht das Kennzeichen des folgenden Jahrzehnts werden sollte.