Kultur der Arbeiterbewegung

Das Ausgestoßensein prägt ein Arbeiterbewusstsein

Die Erfahrung der alltäglichen Ausbeutung und Ausgrenzung aus der bürgerlichen Gesellschaft sowie das Erlebnis der gemeinsamen bedrohten Lebenslage haben Folgen für die Herausbildung eines eigenen Arbeiterbewusstseins: Weite Kreise der Arbeiterschaft entwickeln eine Ghetto-Mentalität, die aus der Erfahrung von Ungerechtigkeit, Ausgestoßen sein und Zusammengehörigkeit gespeist wird. Dennoch werden ganz unterschiedliche Konsequenzen gezogen.  

Eine Rolle für die politische Orientierung der Arbeiter und Arbeiterinnen spielen u.a. soziale und regionale Herkunft, Qualifikation sowie Alter und Familienstand. Gerade der Zustrom von Arbeitern aus dem Osten, aus Polen, und vom Lande, z.B. aus Ostpreußen und aus der Eifel, verursacht Bruchlinien in der Arbeiterschaft, und zwar nicht nur in Form ethnisch-religiöser, sondern auch sozialer Unterschiede. Denn solange der „Nachschub” ungelernter und wenig anspruchsvoller Arbeitskräfte anhält, so lange bieten sich den besser ausgebildeten Arbeiter leichtere Aufstiegschancen – und auch die Möglichkeit, ein eigenes Statusbewusstsein zu kultivieren. Auch die enormen Lohnunterschiede und die hohe Mobilität der Arbeiter erschweren die Herausbildung eines einheitlichen Arbeiterbewusstseins.

Von besonderer Bedeutung sind allerdings die weltanschaulichen Prägungen. Obwohl die Masse der Arbeiterinnen und Arbeiter aufgrund der gemeinsamen Lebensbedingungen eine soziale Schichtenmentalität ausbildet, entwickeln sich unterschiedliche politische Richtungen auch innerhalb der Arbeiterschaft. So finden sich neben einer Vielzahl von politisch desinteressierten Arbeitern auch national-gesinnte Arbeiter, die die imperialistischen Großmachtpläne der Reichsführung bejahen. Aber eine wachsende Zahl von Arbeitern und Arbeiterinnen findet ihre „politische Heimat“ in arbeiter-spezifischen sozio-kulturellen Milieus.

Sport- und Gesangsvereine

Das Bewusstsein von Aus- und Abgrenzung und der Wunsch, eine eigene politische Gemeinschaft zu formen, kennzeichnet das sozialdemokratische und auch das katholische Arbeitermilieu. Diese Milieus entstehen durch die gemeinsame Erfahrung von Not, Elend und Ungerechtigkeit, aber auch durch die Schaffung von Organisationen, in denen der Zusammenhalt „gelebt“ wird. Das Spektrum der Verbände reicht von den politischen Parteien über Genossenschaften bis zur Arbeiterkulturbewegung mit ihren Sport- und Gesangsvereinen. In beiden Milieus sind die beiden größten Richtungsgewerkschaften verwurzelt, beide werden von den Gewerkschaften mitgeprägt.

Hinzu kommt die Verankerung der unterschiedlichen Milieus im Alltag. Dazu gehört die Lektüre der entsprechenden Zeitung und die Teilnahme an den Veranstaltungen – von der 1. Mai-Kundgebung bis zur Fronleichnams-Prozession. All das lässt Arbeiterinnen und Arbeiter die eigene politische Kultur als „Heimat” empfinden, was zugleich die Randstellung mit einer eigenen Ideologie verfestigt.

Das Klassenbewusstsein wächst

Fast alle Arbeiter und Arbeiterinnen leiden unter Ausbeutung und Entmündigung, unter allgegenwärtiger Armut und Not. Daraus entwickelt sich ein gemeinsames Bewusstsein, in dem sich die Erfahrung der Demütigung und Erniedrigung mit dem trotzigen Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen, verbindet. Außerdem wächst eine Art von Zusammengehörigkeitsgefühl heran, das sich einerseits auf die Erfahrung der Ausgrenzung und Unterdrückung durch Bürgertum und Adel stützt. Andererseits wird es aber auch getragen von einem gewissen Stolz auf die eigene Kraft, auf körperliche Einsatzfähigkeit und fachliches Geschick, mit dem man die offenbar in der Welt anerkannten deutschen Produkte herstellt. Berufsstolz und Arbeitsstolz gehen Hand in Hand mit einem ausgeprägten Aufstiegswillen. Damit es die Kinder einmal besser haben, sind die Eltern zu großen finanziellen Opfern für die Ausbildung der Kinder bereit, vor allem für die der Jungen.

Die (fast) allen Arbeitern und Arbeiterinnen gemeinsame Erfahrung der Ausbeutung sowie der politisch-rechtlichen Ausgrenzung und Benachteiligung fordert die Entwicklung politischer Solidarität gegenüber den Ungerechtigkeiten und Zumutungen der Klassengesellschaft geradezu heraus. Nicht zuletzt angesichts der alltäglich erfahrenen Unterdrückung der politischen und gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung einerseits sowie der geschlossenen Front von Wirtschaft und Staat empfinden viele Arbeiterinnen und Arbeiter das Kaiserreich als Klassenstaat zugunsten der Besitzenden.

Diese Solidarität führt jedoch nur bei einer Minderheit zu einem Klassenbewusstsein. Dennoch: Die Sozialdemokratie ist für einen wachsenden Teil der Arbeiterschaft der Garant für eine bessere Zukunft. Die Mai-Feier wird zum Symbol eines „Völker-Frühlings“, der eine Gesellschaft von Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und Frieden bringen wird. Die Gründer und geistigen Väter der Bewegung – insbesondere Ferdinand Lassalle, Karl Marx und August Bebel – werden als Heilsbringer verehrt. Das ist gewiss auch eine Antwort auf die zeitgenössische Verehrung etwa des Kaisers und vor allem Bismarcks. 

Seiten dieses Artikels:

1890 - 1914

Auf dem Weg zum Dachverband
Der Kampf gegen soziale Missstände -  Tarifverträge auf dem Vormarsch

Themen dieser Epoche:
Kultur der Arbeiterbewegung
Politisches Engagement der Arbeiter
Veränderungen in der Arbeitswelt
Christliche Gewerkschaften: Konflikt mit der Kirche
Aufgaben der Generalkommission
Debatte über Massenstreik
Streit um lokale oder zentrale Strukturen

Die Not der Heim-, Land- und Wanderarbeiter
Keine soziale Absicherung
Zusammenleben auf engstem Raum

Verfügbare Statistiken für diese Epoche:
Arbeitslosigkeit, Arbeitszeit, Arbeitskämpfe, Löhne, Mitgliederentwicklung der Gewerkschaften, Strukturdaten zur Erwerbsbevölkerung.

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Spiel, Sport und Gesang
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