Die Politik der deutschen Sozialdemokratie im Sommer 1914 und während des Krieges ist innerhalb der Partei heftig umstritten. Sie führt schließlich zur Spaltung der SPD in die Mehrheitssozialdemokratie (MSPD) und in die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD).
Im Sommer 1914 unterwirft sich der linke Flügel der SPD um Hugo Haase bei der Bewilligung der Kriegskredite noch der Fraktionsdisziplin, doch ab dem Winter 1914/15 zeichnet sich ein Auseinanderbrechen der Partei ab. Eine wachsende Minderheit der Reichstagsfraktion, angeführt von Karl Liebknecht und unterstützt von Rosa Luxemburg, verweigert die Zustimmung zu weiteren Kriegskrediten und tritt für eine Aufkündigung des Burgfriedens sowie einen sofortigen Friedensschluss ohne jede Vorbedingungen ein.
1917 ziehen die Parteilinken Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zusammen mit Vertretern der Parteimitte wie Karl Kautsky und Eduard Bernstein die Konsequenzen und gründen die USDP. Die MSDP um Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann werden von der Generalkommission der Gewerkschaften unterstützt. Das bringt ihnen den Vorwurf ein, sie hätten mit ihrer Kriegspolitik die Prinzipien der Sozialdemokratie „verraten“.
Wissenschaftliche Kontroverse
Die Haltung von SPD und Freien Gewerkschaften ist auch in der Wissenschaft umstritten. Die einen halten die Bewilligung der Kriegskredite für nachvollziehbar, weil sich die sozialdemokratische Arbeiterbewegung in einem dem Deutschen Reich aufgezwungenen Verteidigungskrieg wähnte. Außerdem hätten SPD und Freie Gewerkschaften kaum eine Chance gehabt, ihre Mitglieder gegen den Krieg zu mobilisieren. Diese seien, wie große Teile der Arbeiterschaft, unter dem Druck der Situation im Sommer 1914 in die Einheitsfront „der“ Deutschen eingeschwenkt, so dass die Partei- und Gewerkschaftsführungen nicht auf Unterstützung eines etwaigen Generalstreikaufrufs hätten rechnen können.
Auch die Entscheidung für den Burgfrieden sei kein wirklicher Bruch mit der Tradition der SPD, da diese schon lange vor Kriegsbeginn auf dem Weg zu einer reform-orientierten Partei gewesen sei, die sich weitgehend in das System des Wilhelminischen Obrigkeitsstaates eingeordnet und auf jede revolutionäre Zielsetzung verzichtet habe.
Andere meinen, die Sozialdemokratie hätte erkennen können und müssen, dass die deutsche Reichsführung diesen Krieg schuldhaft verursacht habe, der nur mit einem politischen Massenstreik zu verhindern gewesen wäre. Dass sie nicht zum Generalstreik aufgerufen haben, sei eine Verletzung der internationalen Solidarität und damit ein Verstoß gegen die Grundprinzipien der eigenen Programmatik. Der Burgfriedenbeschluss liege ganz auf dieser Linie, habe die Sozialdemokratie damit doch die Möglichkeit vertan, die Kriegssituation für einen revolutionären Umsturz zu nutzen. Auch das wird nicht nur als politisches Versagen, sondern als Prinzipienverrat angeprangert.
Die unterschiedlichen Positionen in der wissenschaftlichen Debatte folgen im Grund den Frontlinien der damaligen politischen Auseinandersetzung: Je nachdem, welcher politischen Richtung die Autorinnen und Autoren zuneigen, fällt das Urteil über die Politik der Sozialdemokratie mal verständnisvoll, mal unnachsichtig kritisch aus.
Differenziertes Urteil
Nach dem Ende des „Systemkonflikts“ zeigen sich Anzeichen für eine differenziertere Interpretation, die eine einseitige Parteinahme vermeidet. Je mehr die These, die deutsche Reichsführung habe die alleinige oder Haupt-Schuld am Beginn des Ersten Weltkrieges, in der wissenschaftlichen Literatur abgeschwächt wird, gilt die Position von Sozialdemokratie und Freien Gewerkschaften im Sommer 1914 als nachvollziehbar. So wird oftmals die Erklärung der Mehrheitsposition hingenommen, sie habe geglaubt, Deutschland befinde sich in einem Verteidigungskrieg. Außerdem habe sich die Parteiführung unter dem Druck einer Massenstimmung gesehen, die ihr keine Alternative gelassen habe, als die deutsche Kriegsführung zu unterstützen. Während die Bewilligung der Kriegskredite oftmals für nachvollziehbar gehalten wird, werden das Ausrufen und Festhalten am Burgfrieden mehrheitlich problematisiert.
Als schwere Versäumnisse, die zur Verlängerung des Krieges mit all seinem Leid und Elend beigetragen haben, wird aufgeführt:
- Führende Mitglieder von MSPD und Freien Gewerkschaften übernehmen im Laufe des Krieges die Kriegsziele des Staates;
- MSPD und Freie Gewerkschaften lassen sich in die Kriegspolitik der Reichsführung einbinden;
- SPD-Führung und die Generalkommission der Freien Gewerkschaften beharren kompromisslos auf der Einhaltung des Postulats der Parteigeschlossenheit, abweichenden Positionen innerhalb der SPD sind nicht zugelassen;
- Gewerkschaftsführungen weigern sich, den mit Demonstranten und Streikenden ins Gespräch zu kommen und verlieren dadurch den Kontakt zu großen Teilen der Arbeiterschaft.
Heute wird die Kriegspolitik von SPD und Freien Gewerkschaften nicht (mehr) pauschal als „Verrat“ an Prinzipien und Traditionen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung gebrandmarkt. Doch die Fehleinschätzung der Rolle der Reichsführung bei Beginn des Ersten Weltkrieges, die harte Ablehnung der Minderheitsposition, die Ausgrenzung der innerparteilichen Opposition und das Festhalten am Burgfrieden wird auch heute noch von vielen kritisch beurteilt. Dieser Streit findet seine Fortsetzung in der Debatte um die Einschätzung der sozialdemokratischen Politik während der Revolution.