Es sind die Jahre, in denen nichts bleibt wie es war: Deutschland wächst zusammen, Europa wird größer und die Digitalisierung verändert die Arbeitswelt von Grund auf. Viele Menschen sind verunsichert und die Gewissheit, dass es allen immer bessergehen wird, zerrinnt. Die Gewerkschaften haben nicht den Einfluss, diese Umwälzungen in ihrem Sinne mitzugestalten, Sozialleistungen werden zusammengestrichen. Nur auf dem Feld der Tarifpolitik können die Gewerkschaften noch punkten.
Die Demontage des Sozialsystems beginnt schon unter der Regierung Kohl. Doch tief ins Gedächtnis eingebrannt hat sich die Agenda 2010, die von der rot-grünen Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder auf den Weg gebracht wird. Trotz massiver Proteste von Gewerkschaften, Kirchen und Sozialverbänden gelingt es nicht, den Abbau sozialer Leistungen zu verhindern. Ein Grund dafür: Deutschland ist immer noch gespalten. Nicht nur in Ost und West, weil der Weg in die Marktwirtschaft in den Neuen Bundesländern tiefe Spuren hinterlässt. Sondern auch quer durch ganz Deutschland in regulär angestellte Arbeitnehmer und prekär Beschäftigte und Arbeitslose.
Diese Spaltung prägt die Politik der Gewerkschaften ein ganzes Jahrzehnt. Sie wollen die Lebensbedingungen durch Lohnerhöhungen im Osten verbessern und im Westen stabilisieren. Und sie wollen einen Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit leisten. Sie sind bereit, auf Lohnanteile zu verzichten, wenn die Arbeitgeber im Gegenzug eine Beschäftigungsgarantie abgeben. Sie drängen Bundesregierung und Arbeitgeber zu einem „Bündnis für Arbeit“, um den Strukturwandel gemeinsam zu gestalten, obwohl diese Initiative auch innerhalb der Gewerkschaften umstritten ist.
Denn die Arbeitgeber haben die viel gepriesene Sozialpartnerschaft längst aufgekündigt. Wissend, dass die hohe Arbeitslosigkeit die Handlungsmöglichkeiten der Gewerkschaften schwächt, nutzen sie die Gunst der Stunde, um ungeliebte Regelungen abzuschaffen oder aufzuweichen. Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall werden von der Kohl-Regierung verschlechtert, Tarifverträge werden unterlaufen oder durch den Austritt eines Betriebes aus dem Arbeitgeberverband ganz außer Kraft gesetzt. Hans-Olaf Henkel, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), ermuntert die westdeutschen Arbeitgeber sogar öffentlich und rechtswidrig, gegen den Flächentarifvertrag zu verstoßen (1997). Kein Wunder, dass in diesem Klima das „Bündnis für Arbeit“, zu dem Helmut Kohl auf Vorschlag der Gewerkschaften erstmals 1995 geladen hat, wenig Früchte trägt.
Nach dem Regierungswechsel 1998 wird die Initiative wiederbelebt. Mehrfach treffen sich Vertreter von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden bei Kanzler Schröder, um Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Besprochen werden Öffnungsklauseln für Tarifverträge, flexiblere Arbeitszeiten, Senkung der Lohnnebenkosten und Reform der Sozialsysteme. Als klar wird, wie die Regierung diese Maßnahmen umsetzen will, scheitert das Bündnis im Jahr 2003 endgültig.
Wenig Einfluss auf Europa
Auch auf der europäischen und der internationalen Ebene sind die Gewerkschaften schwach. Dabei sind sie dort notwendiger denn je. Immer mehr Entscheidungen kommen von der Europäischen Union, multinationale Konzerne setzen Maßstäbe weltweit. Eine auf den Nationalstaat begrenzte Politik der Gewerkschaften kann hier wenig bewirken. Doch nur nach und nach gelingt es, den Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) zu einer Aktionsgemeinschaft zu entwickeln und mit Leben zu erfüllen. Die Gründung des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB), ein Zusammenschluss aus dem Internationalen Bund Freier Gewerkschaften und dem Weltverband der Arbeitnehmer, verbessert zwar die Handlungsmöglichkeiten auf der internationalen Ebene, doch um die Globalisierung zu gestalten, dazu fehlen auch hier Kraft und Einflussmöglichkeiten.
Wirkungsvoller sind die Zusammenschlüsse, die sich auf Branchen- und Konzernebene bilden. Europäische Gewerkschaftsausschüsse und vor allem die Interregionalen Gewerkschaftsräte (IGR) versuchen die Zusammenarbeit zu stärken. In einigen übernationalen Konzernen werden „Weltkonzernräte” gebildet.
Lohn- und Arbeitszeitpolitik
Erfolgreicher sind die Gewerkschaften in der Tarifpolitik. Zwar fallen die Lohnabschlüsse immer noch bescheiden aus, dennoch gelingt es, die Realeinkommen im Westen zu stabilisieren. Die Löhne und Gehälter im Osten werden schrittweise angepasst und steigen zwischen 1990 und 1997 von 68 Prozent auf etwa 90 Prozent des Westniveaus. Die völlige Gleichstellung ist auch 2015 noch nicht erreicht.
Auch bei der Arbeitszeit können die Gewerkschaften Erfolge verbuchen: Nach zähen Auseinandersetzungen und in mehreren Etappen tritt die 35-Stunden-Woche im Oktober 1995 in der Metallindustrie in Kraft. IG Medien, ÖTV, HBV und andere Gewerkschaften folgen. 2015 liegt die tarifliche Arbeitszeit im Schnitt bei 37,5 in den Alten Bundesländern und bei 38,7 Stunden pro Woche in den Neuen Bundesländern.
Allerdings: Die tatsächlich geleistete Arbeitszeit dürfte weit höher sein. Durch flexible Arbeitszeitmodelle und die Auslagerung von Arbeiten an Selbstständige können die tariflich vereinbarten Höchstgrenzen leicht umgangen werden.
Das politische Engagement der Gewerkschaften
Nicht nur die Wirtschafts- und die Sozialpolitik der konservativen Regierung fordern die Gewerkschaften in den 1990er Jahren heraus. Seit dem Anschlag auf das World Trade Center in New York im September 2001 beherrscht der Kampf gegen Terrorismus die Außen- und Innenpolitik. Das Abhören von privaten Wohnungen wird erleichtert und der Datenschutz ausgehöhlt. Die Bundeswehr wird mehr und mehr in internationale Krisenregionen abkommandiert.
Der DGB lehnt „out of area-Einsätze” Deutschlands im Rahmen der NATO ab. Er akzeptiert die Teilnahme deutscher Soldaten an UN-Maßnahmen zur Friedenserhaltung, nicht aber zur Friedensschaffung. Er unterstützt örtliche und bundesweite Friedensaktionen, um angesichts der eskalierenden Gewalt seine Sorgen zum Ausdruck zu bringen. Er engagiert sich gegen den „Großen Lauschangriff“, weil er darin einen Angriff auf die demokratischen Rechte sieht. Und er kämpft gegen Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit.
Schon Mitte der 1990er Jahren nehmen die Überfälle auf Ausländer zu. Asylbewerberheime brennen, Menschen mit anderer Hautfarbe werden auf offener Straße zusammengeschlagen. Der DGB startet Initiativen gegen Ausländerfeindlichkeit, wie etwa die Kampagne „Mach’ meinen Kumpel nicht an””. Er beteiligt sich an Lichterketten, Mahnwachen und Demonstrationen und fordert die „uneingeschränkte Erhaltung des politischen Asylrechts”.
2015, als mehr als eine Million Flüchtlinge aus den Krisengebieten dieser Welt nach Deutschland strömen, stehen viele Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter bereit, um den Menschen den Neustart in Deutschland zu erleichtern. Sie sammeln Kleider, Spielzeug und Haushaltsgegenstände, geben Deutschunterricht und begleiten die Flüchtlinge zu den Ämtern.
Zwischenhoch in der Mitgliederentwicklung
Die Vereinigung des DGB mit dem ostdeutschen FDGB verläuft nicht ganz konfliktfrei, denn eine einfache Fusion kommt für die DGB-Gewerkschaften nicht in Frage. Für sie ist der FDGB eine Massenorganisation der SED. Die FDGB-Einzelgewerkschaften bilden daraufhin einen unabhängigen Sprecherrat, lösen den FDGB auf und die Mitglieder können dann den jeweiligen DGB-Gewerkschaften beitreten.
Dank der Zusammenschlüsse gehen die Mitgliederzahlen des DGB nach oben. Allerdings deutlich weniger als erwartet. Von den 9,6 Millionen FDGB-Mitgliedern bleiben nur 3,6 Millionen einer Gewerkschaft treu, die Zahl der DGB-Mitglieder klettert auf 11,5 Millionen im Jahr 1990. Doch dieser Höchststand hält nicht lange, die Mitgliederzahlen sinken schnell: Im Jahr 1998 zählt der DGB nur noch 8,31 Millionen Mitglieder. Und der Mitgliederschwund hält an: Der DGB verliert zwischen 1999 und 2014 noch einmal fast zwei Millionen Mitglieder und hat mit 6,1 Millionen Beitragszahlern 2014 weniger Mitglieder als vor der Wiedervereinigung.
Die überfällige DGB-Reform
Nach der Vereinigung mit den Einzelgewerkschaften des Ostens wird der Ruf nach einer Reform des DGB wieder lauter. Doch über das Wie wird immer noch lebhaft gestritten. Erst auf 14. DGB-Kongress 1994 gelingt es, Nägel mit Köpfen zu machen: Die Gremien des DGB werden verkleinert und die Aufgaben zwischen Einzelgewerkschaften und Dachverband neu verteilt.
Ab Mitte der 1990er Jahren kommt es zu zahlreichen Fusionen, von den 16 Einzelgewerkschaften bleiben acht übrig. Neu gegründet werden die IG Bauen – Agrar – Umwelt, die IG Bergbau – Chemie – Energie und die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Die Gewerkschaft Textil und Bekleidung und die Gewerkschaft Holz und Kunststoff schließen sich der IG Metall an.
Eine historische Entscheidung fällt die Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG): Sie schließt sich der DGB-Gewerkschaft ver.di an.
Etliche Mitglieder, die sich nicht mit ihrer neuen Gewerkschaft identifizieren können, ziehen sich zurück oder wechseln in einen Berufs- oder Branchenverband. Die Vereinigung Cockpit (VC) für Piloten, die Unabhängige Flugbegleiter Organisation (UFO), die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) und der Marburger Bund für die angestellten Ärzte profitieren von dieser Entwicklung. Dank des hohen Organisationsgrades fällt es diesen Berufsverbänden leicht, eine offensive Interessenpolitik zu machen. Doch die Spaltung der Belegschaften wird dadurch vertieft.