Die Stimmung auf dem Gründungskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), der vom 12. bis 14. Oktober 1949 in München tagt, ist optimistisch. Die Delegierten von 16 Industriegewerkschaften, die sich an diesem Tag zu einem Dachverband zusammenschließen, verabschieden ein ehrgeiziges Programm.
Hans Böckler, der zum DGB-Vorsitzenden gewählt wird, umreißt in einer viel beachteten Grundsatzrede „Die Aufgaben der deutschen Gewerkschaften in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft”. Höhere Löhne, Verkürzung der Arbeitszeit, Abbau der Arbeitslosigkeit und Beschleunigung des Wohnungsbaus – das sind die Aufgaben, die er den Gewerkschaften empfiehlt.
Er fordert, die politische Demokratisierung müsse durch die Demokratisierung der Wirtschaft ergänzt werden. Das „DGB-Programm“, das von Delegierten verabschiedet wird, folgt seinen Vorstellungen und fordert Mitbestimmung, die Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeineigentum und eine zentrale volkswirtschaftliche Planung.
Wirtschaftspolitische Grundsätze des Deutschen Gewerkschaftsbundes Oktober 1949 (pdf)
Die in München vorgelegten Grundsätze sind noch kein umfassendes Gewerkschaftsprogramm. Sie sind eher der Versuch, eine Orientierung zu geben, wie die frisch etablierte marktwirtschaftliche Ordnung gebändigt werden kann.
Organisationsgrad sinkt
Die Gewerkschaften können in den Jahren von 1949 bis 1966 einige tarif- und sozialpolitischen Erfolge vorweisen. Doch einen deutlichen Mitgliederzustrom löst das nicht aus. Zwar steigen die Mitgliederzahlen von fast 5,4 Millionen im Jahre 1950 auf 6,57 Millionen im Jahre 1965 an, doch gemessen an der Zahl der Erwerbstätigen, die im selben Zeitraum von 14,5 auf 21,6 Millionen wächst, ist dies kein überwältigendes Ergebnis. Auch wenn man die Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG), deren Mitgliedschaft von 343.000 (1951) auf 475.000 (1965) anwächst, mitzählt, sinkt der Organisationsgrad von 1951 bis 1965 von 38,6 auf 32,6 Prozent.
Diese Entwicklung ist auf unterschiedliche Faktoren zurückzuführen. Da sind zunächst die Strukturveränderungen der Arbeitnehmerschaft, die sich direkt auf die Entwicklung einzelner Gewerkschaften auswirken. Der vom Bedeutungsverlust einzelner Branchen verursachte Rückgang der Beschäftigtenzahlen schlägt auf die betroffenen Gewerkschaften voll durch: So fallen im Zeitraum von 1950 bis 1965 die Mitgliederzahlen der Gewerkschaft Leder von 95.000 auf 74.000, die der Gewerkschaft Gartenbau, Landwirtschaft und Forsten von 98.000 auf 67.000, die der Gewerkschaft Holz von 180.000 auf 121.000, die der Gewerkschaft Textil und Bekleidung von 387.000 auf 310.000 und die der IG Bergbau und Energie von 534.000 auf 319.000.
Als ausgesprochene Wachstumsgewerkschaften erweisen sich die IG Metall (1,28 auf 1,74 Millionen), die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (726.000 auf 970.000), die IG Chemie, Papier, Keramik (389.000 auf 496.00), die IG Bau, Steine, Erden (376.000 auf 436.000) und die Deutsche Postgewerkschaft (190.000 auf 323.000). Die IG Druck und Papier (122.000 auf 129.000) und die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (244.000 auf 256.000) stagnieren.
Allen gemeinsam ist: Der Organisationsgrad sinkt. Er fällt bei der IG Metall von 53,0 auf 34,2 Prozent, bei der IG Chemie von 51,3 auf 36,6 Prozent und bei der IG Bau von 30,2 auf 19,2 Prozent. Hoch bleibt er jedoch bei der IG Bergbau, die in ihrer seit Ende der 1950er Jahre von Krisen geschüttelten Branche „nur” ein Absinken des Organisationsgrades von 90,4 (1950) auf 68,5 Prozent (1965) hinnehmen muss.
Neben den Unterschieden im Organisationsgrad von Branche zu Branche zeigen sich auch deutliche Defizite, wenn man auf den Anteil von Angestellten, Frauen und Jugendlichen an der Gewerkschaftsmitgliedschaft schaut.
Bilanz der ersten Jahre
Veränderungen der Wirtschafts- und Sozialstruktur einerseits, die Erfahrungen von „Wirtschaftswunder” und „Kaltem Krieg” andererseits drücken den Gewerkschaften ihren Stempel auf. Mit der Zunahme der Angestellten, der steigenden Erwerbstätigkeit von Frauen, der Anwerbung von ausländischen Arbeitnehmern und der Eingliederung von Flüchtlingen und Vertriebenen wächst die Zahl der Erwerbspersonen, die nur schwer zu organisieren sind. Das eher ständisch geprägte Bewusstsein der Angestellten, das traditionelle Rollenverständnis von Frauen, die politische Skepsis bei Flüchtlingen und Vertriebenen und die Sprachbarrieren bei ausländischen Arbeitnehmern erschweren die Werbung.
Angestelltenarbeit in den 1950er Jahren: Buchhaltung in einer Gelsenkirchener Ofenfabrik 1951
© AdsD/6/FOTB017923
Das Rückgrat der Gewerkschaftsorganisation sind die männlichen Facharbeiter. Eine starke Position haben die Gewerkschaften überdies eher in Großbetrieben und in Großstädten. Ein Blick auf die Ergebnisse der Betriebsrätewahlen 1963 zeigt, wie gute sie in den Betrieben verankert sind: 82,2 Prozent aller Mandate entfallen auf den DGB, 3,6 Prozent auf die DAG, 1 Prozent auf sonstige Organisierte (u. a. CGB) und 13,2 Prozent auf Nicht-Organisierte. Bei den Personalratswahlen 1962 erreicht der DGB 73,6 Prozent der Mandate.
Setzen sich bei den Betriebsräte- bzw. Personalratswahlen auch weitgehend die DGB-Listen durch, so kann dies doch nicht über die Probleme der Mitgliederstruktur hinwegtäuschen: Noch haben die Gewerkschaften keine Antwort auf die Veränderungen der Wirtschafts- und damit Beschäftigtenstruktur gefunden. Auch die Anfang der 1960er Jahre verstärkte Agitationsarbeit trägt nicht so rasch Früchte. Erst ab Mitte der 1960er Jahre können die Gewerkschaften auch bei den „problematischen“ Erwerbstätigen Boden gutmachen.
Internationale Einbindung
Der „Kalte Krieg” prägt auch die Bemühungen um einen Wiederaufbau der internationalen Gewerkschaftsbewegung. Anfang Oktober 1945 wird in Paris der Weltgewerkschaftsbund gegründet. Da dieser als von Kommunisten dominiert gilt, schließen sich 1949 die Gewerkschaften aus 52 Ländern – auch die der Bundesrepublik Deutschland - zum Internationalen Bund Freier Gewerkschaften (IBFG) zusammen.