Schon während Großen Koalition verbessert sich das Verhältnis der Gewerkschaften zur Regierung spürbar. Doch echte Aufbruchsstimmung kommt auf, als mit Willy Brandt im Jahr 1969 der erste Sozialdemokrat zum Kanzler gewählt wird. Die sozial-liberale Koalition verspricht, ganz im Sinne der Gewerkschaften, zahlreiche Reformen.
Doch Wirtschaftskrise und FDP, der Koalitionspartner der SPD, schränken die Spielräume der neuen Regierung ein. Und die Gewerkschaften, die sich der SPD verbunden fühlen, geraten in die Zwickmühle. Sie wollen der ihnen nahestehenden Regierung nicht schaden, müssen aber dennoch die Interessen ihrer Mitglieder im Auge behalten und beharren deshalb konsequent auf sozialen Reformen.
Es ist beachtlich, welche sozial- und gesellschaftspolitischen Reformen die Große Koalition und später die sozial-liberale Koalition auf den Weg bringen. Es werden unter anderem verabschiedet: Das Arbeitsförderungsgesetz, das die Bundesanstalt für Arbeit verpflichtet, die berufliche Bildung, Fortbildung und Umschulung zu fördern, und das Lohnfortzahlungsgesetz, mit dem Arbeiter bzw. Arbeiterinnen und Angestellte im Krankheitsfalle endlich gleichgestellt werden. Das Ehe-, Familien- und Scheidungsrecht wird „entstaubt“ und die Abtreibung liberalisiert.
Die Wünsche der Gewerkschaften, die in der sozial-liberalen Koalition mehrere Minister stellen, werden zwar nicht 1 : 1 aufgenommen, doch insgesamt gesehen fühlen sich die Gewerkschaften gut vertreten. Nur beim Thema Mitbestimmung stoßen sie an Grenzen, die insbesondere durch die FDP gesetzt werden. Die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes stärkt zwar die Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte des Betriebsrates, doch Einfluss auf wirtschaftliche Entscheidungen bekommen sie nicht. Und die Forderung der Gewerkschaften nach einer paritätischen Mitbestimmung in allen Großunternehmen, bleibt ganz auf der Strecke. Die „Biedenkopf-Kommission”, die von der Großen Koalition eingesetzt wird, kommt 1970 zwar zu dem Ergebnis, dass die Erfahrungen mit der Montanmitbestimmung durchweg positiv sind, aber sie kann sich nicht dazu durchringen, dieses Mitbestimmungsmodell für alle Großunternehmen zu empfehlen. Das „neue“ Mitbestimmungsgesetz, das 1976 verabschiedet wird, bleibt weit hinter den Vorstellungen der Gewerkschaften zurück.
Die Konzertierte Aktion
In der Tarifpolitik geraten die Gewerkschaften schon während der Großen Koalition in Bedrängnis. Sie nehmen auf Einladung von Wirtschaftsminister Karl Schiller an der „Konzertierten Aktion“ zur Bewältigung der Wirtschaftskrise teil und werden dadurch in die Regierungspolitik eingebunden. Zwar gibt es offiziell weder für Arbeitgeber noch für Gewerkschaften bindende Vorgaben, dennoch halten sich die Gewerkschaften in den Lohnrunden dieser Jahre deutlich zurück. Die Folge: Das Realeinkommen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sinkt und der Unmut der Mitglieder wächst. Nicht zuletzt auch deshalb, weil einige Konzerne trotz Wirtschaftskrise beachtliche Gewinne einfahren. In einigen Betrieben legen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Arbeit spontan nieder und erkämpfen sich höhere Löhne. Die Gewerkschaften sind an diesen Auseinandersetzungen nicht aktiv beteiligt.
Anfang der 1970er Jahre ziehen die Gewerkschaften die Konsequenzen. Um den Vertrauensverlust wettzumachen, werden die Lohnforderungen höher, die Ergebnisse können sich sehen lassen. In mehreren Branchen werden Lohnsteigerungen von über 10 Prozent durchgesetzt.
Humanisierung der Arbeitswelt
Auch auf anderen Feldern können die Gewerkschaften Erfolge verbuchen. Um den Einsatz neuer Technologien zu gestalten, rücken einige Einzelgewerkschaften das Thema „Humanisierung der Arbeitswelt“ stärker in den Vordergrund. IG Metall und IG Chemie, Papier, Keramik schließen erste Tarifverträge zum Rationalisierungsschutz ab und vereinbaren unter anderem verbesserte Pausenregelungen für Akkord- und Prämienarbeiter. Ende der 1970er Jahre erreicht die IG Druck und Papier, dass bei der Umstellung von Bleisatz auf elektronische Datenverarbeitung in der Druckindustrie die Facharbeiter weiterbeschäftigt werden müssen.
Mitgliederentwicklung
Die Erfolge in der Tarifpolitik schlagen sich positiv in der Mitgliederbilanz nieder: Die Zahl der Mitglieder im DGB steigt von 6,5 (1966) auf 7,4 Millionen (1974). Überproportional profitieren davon die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die Deutsche Postgewerkschaft, die IG Metall, die IG Chemie, Papier, Keramik und die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr.
Werbeplakat des DGB für seine gemeinwirtschaftlichen Unternehmen
© AdsD/6/PLKA001985; Urheber: Haehn
Stagnation oder Einbußen müssen die Gewerkschaft Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft, die Gewerkschaft Leder, die IG Bergbau und Energie und die Gewerkschaft Textil und Bekleidung hinnehmen. Nicht weil sie schlechtere Gewerkschaftsarbeit machen, sondern weil ihre Branchen schrumpfen.
Gemeinwirtschaftliche Unternehmen florieren
Die Zustimmung zu den Gewerkschaften spiegelt sich auch in der Entwicklung der gemeinwirtschaftlichen Unternehmen wider. Die Wohnungsgesellschaft Neue Heimat, die Bank für Gemeinwirtschaft, die Verbrauchsgenossenschaft Co op und die Versicherungsgesellschaft Volksfürsorge florieren. Sie bieten ihre Leistungen vielfach zu günstigeren Konditionen als die privatwirtschaftliche Konkurrenz an. Die Gewerkschaften unterstreichen damit ihre Position, dass auch nicht profitorientierte Unternehmen in einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung gedeihen können.