Enttäuschung und Verbitterung weiter Kreise der politischen Linken über den begrenzten Erfolg der Revolution werden wohl noch übertroffen von Verachtung und Hass der „nationalen Rechten”, die sich gegen die „Novemberverbrecher” und „Erfüllungspolitiker”, gegen das „Versailler Diktat” und gegen das ganze „Weimarer System” richten. Erster unübersehbarer Ausdruck dieses Kampfes gegen die Republik ist der Kapp-Putsch.
Als die „Brigade Ehrhardt” am 13. März 1920 in Berlin einmarschiert und sich der ehemalige ostpreußische Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp zum Reichskanzler ausrufen lässt, als die rechtmäßig gewählte Regierung – von der Reichswehr im Stich gelassen – aus Berlin flieht, da beweisen große Teile der Arbeiter- und auch der Beamtenschaft ihre Loyalität zur gefährdeten Regierung: Noch am 13. März 1920 rufen ADGB und AfA-Bund zum Generalstreik auf. Am 14. März wird der Aufruf von der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), am 15. März von den Christlichen Gewerkschaften und am 16. März auch vom Deutschen Beamtenbund unterstützt. Nach fünf Tagen Generalstreik geben die Putschisten – am 17. März 1920 – auf.
Die Freien Gewerkschaften glauben daraufhin, die Erfüllung einiger Forderungen verlangen zu können. In ihrer Erklärung vom 18. März mahnen sie die „gründliche Reinigung der gesamten öffentlichen Verwaltungen und Betriebsverwaltungen von allen reaktionären Persönlichkeiten” an. Sie fordern, endlich „entscheidenden Einfluss [. . .] auf die Umgestaltung der Regierungen im Reich und in den Ländern” sowie auf die „Neuregelung der wirtschafts- und sozialpolitischen Gesetzgebung” nehmen zu können.
Generalstreik gegen den Kapp-Putsch: Blick auf den Münchener Bahnhofsplatz, 15. März 1920
© AdsD/B001723
Die Geschlossenheit der Gewerkschaften, die im Generalstreik gemeinsam die Putschisten bekämpft haben, zerbricht. Die Christlichen Gewerkschaften sehen in den Forderungen der Freien den Versuch einer politischen Erpressung, an dem sie sich nicht beteiligen wollen. Argwöhnisch beobachten sie die Verhandlungen zur Bildung einer reinen „Arbeiterregierung”, deren Spitze der ADGB-Vorsitzende Carl Legien übernehmen soll. Doch diese Pläne scheitern ohnehin an der Kluft zwischen USPD und MSPD – und an der Weigerung Legiens, das Reichskanzleramt zu übernehmen. Von Reichskanzler Hermann Müller (SPD) wird stattdessen eine Koalitionsregierung von SPD, Zentrum und DDP gebildet. Und die den Freien Gewerkschaften beim Abbruch des Generalstreiks gegebenen Zusagen werden in wesentlichen Teilen nicht eingehalten – zum Beispiel den gewerkschaftlichen Einfluss auf die Regierungsbildung und die Sozialisierungspolitik zu stärken.
Manch Gewerkschafter ist zudem verbittert, als die (von den Gewerkschaften nicht unterstützten) bewaffneten Unruhen an der Ruhr, mit denen die Erfüllung der revolutionären Forderungen eingeklagt werden sollen, blutig niedergeschlagen werden. Die Situation verändert sich vollends zu Ungunsten der (Freien) Gewerkschaften, als sich bei den Wahlen vom 6. Juni 1920 die Stimmenzahl der MSPD gegenüber den letzten Wahlen fast halbiert und eine bürgerliche Koalitionsregierung (Zentrum, DDP und DVP) gebildet wird.
Die Gewerkschaften haben sich zwar als stark genug erwiesen, dem Kapp-Putsch zu begegnen. Sie sind jedoch zu schwach, ihren Machtanspruch in Politik umzusetzen. Das diskreditiert sie bei den Linken. Aber auf der politischen Rechten reicht allein der gewerkschaftliche Anspruch auf maßgebliche politische Einflussnahme aus, die Gewerkschaften mit dem Odium zu belasten, sie strebten einen „Gewerkschaftsstaat” an. Wie weit die Realität gerade davon entfernt ist, wird mit diesem Schlagwort überdeckt. Denn in Wirklichkeit stagniert die Sozialpolitik unter dem Druck der Geldentwertung. Eine durchgreifende Demokratisierung von Verwaltung und Justiz bleibt aus. Und die wirtschaftliche Machtfrage – konkret das Problem der Sozialisierung – wird nicht noch einmal aufgerollt.
Wettlauf gegen die Inflation
Die Gewerkschaften aller Richtungen lassen sich – mehr oder minder bereitwillig – in die Regierungspolitik des „passiven Widerstandes” gegen die Ruhrbesetzung einbinden, deren Finanzierung die Reichsfinanzen ruiniert und die Inflation anheizt. Zum Teil wider besseres Wissen lassen sich auch die Freien Gewerkschaften von den nationalistischen Parolen dieses „spontanen Abwehrkampfes” anstecken – vielleicht in der Hoffnung, für ihre damit einmal mehr bewiesene Bereitschaft zur „nationalen Pflichterfüllung” sozialpolitisches Entgegenkommen zu ernten. Doch diese Rechnung geht nicht auf. Vielmehr sehen sich die Gewerkschaften im Zuge der Inflation auch auf ihrem ureigensten Aufgabenfeld, der Tarifpolitik, in die Defensive gedrängt.
Ist es 1918/19 den Gewerkschaften darauf angekommen, die Kaufkraftverluste der Kriegszeit auszugleichen, so beginnt schon 1920 der Wettlauf mit der Geldentwertung. Die ausgehandelten Lohnerhöhungen können die explodierenden Lebenshaltungskosten nicht ausgleichen. Zwar ist die Entwicklung der Reallöhne je nach Region, Branche, Beruf und Qualifikation sehr unterschiedlich, doch Fakt ist, die Reallöhne sinken, der Lebensstandard der Arbeiterfamilien verschlechtert sich.
Die Inflation bedroht auch die Existenz der Gewerkschaften. Sie verlieren massenhaft Mitglieder. Die Kassenlage verschlechtert sich durch die verminderten Beitragseinnahmen und durch die Entwertung des Gewerkschaftsvermögens rapide. Funktionäre werden entlassen, Zeitschriften eingestellt, die Unterstützungsleistungen werden gesenkt oder ganz gestrichen. Die noch verbliebenen hauptamtlichen Gewerkschaftsmitarbeiter müssen ständig neue Tarifverhandlungen führen, eine Aufgabe, die kaum zu bewältigen ist.
Noch Anfang 1920 lehnen die Freien Gewerkschaften gleitende Lohnskalen ab. Doch als die Tarifverhandlungen seit Ende 1922 wöchentlich stattfinden müssen, um die Inflation auszugleichen, empfiehlt der Bundesausschuss des ADGB am 4. Juli 1923 den Einzelgewerkschaften, in die Tarifverträge Lohngleitklauseln aufzunehmen. Der Lohn sei am Zahltag auf der Basis einer amtlichen Messziffer zu berechnen, die der wöchentlichen Steigerung der Lebenshaltungskosten entsprechen soll. Ab Sommer 1923 wird dieser Lebenshaltungskostenindex eingeführt.
Zahlreiche Arbeitskämpfe
Das gewerkschaftliche Engagement in der Lohn- und Arbeitszeitfrage zeigt sich von 1920 bis 1922 – trotz geschwächter Kampfkraft – in zahlreichen Arbeitskämpfen. Gewiss unterliegt die Streikbereitschaft deutlich konjunkturell bzw. wirtschaftlich bedingten Schwankungen. Doch der sprunghafte Anstieg und das hohe Niveau der Streikaktivität 1919 bis 1922 zeigen vor allem den Erwartungshorizont der Arbeiterschaft, die eine Verbesserung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Lage durchzusetzen wollen. Doch 1923 – in der Hochinflation – machen sich Verbitterung und auch Resignation breit. Die Streikaktivitäten gehen zurück.