Der Weg zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten überdeckt ab dem Jahreswechsel 1989/90 alle anderen politischen Fragen. Die Gewerkschaften begleiten den Prozess der deutschen Vereinigung durch Stellungnahmen und Vorschläge. Sie nehmen zum Vorhaben der Währungsunion ebenso Stellung wie zur Herstellung der Wirtschafts- und Sozialunion. Der DGB veröffentlicht – mal zusammen mit der BDA, mal zusammen mit dem Sprecherrat der Gewerkschaften der DDR – mehrere Stellungnahmen zur Beschäftigungs- und Sozialpolitik im vereinigten Deutschland.
Als vordringliche Aufgaben gelten die Einführung der Tarifautonomie, die soziale Flankierung der Umstellung des Arbeitsmarktes durch eine Anschubfinanzierung vor allem der Arbeitslosenversicherung, die Vereinheitlichung der Sozialversicherung, die Verankerung der Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmen und eine Qualifizierungsinitiative. Und die Gewerkschaften warnen davor, die Vereinigung Deutschlands dazu zu nutzen, Lohn- und Sozialabbau in der Bundesrepublik durchzusetzen.
Die Gewerkschaften unterstützen das Vorhaben der Regierungen beider deutscher Staaten, den Parlamenten möglichst bald einen vertraglich fixierten Rahmen für die Herstellung der deutschen Einheit vorzulegen. Dafür legen sie einen Katalog von Anforderungen vor, der von der Garantie des Rechts auf Arbeit, der Koalitionsfreiheit und der Tarifautonomie über das Verbot der Aussperrung bis hin zur Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen in allen Regionen Deutschlands reicht. Auch wehren sich die Gewerkschaften gegen das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung”, das eben wegen der ungeklärten Eigentumsverhältnisse vielfach zu einer Investitionsbremse wird.
Doch die wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidungen werden in diesen Monaten ohne Berücksichtigung der zentralen Forderungen und ohne institutionelle Einbeziehung der Gewerkschaften getroffen. Bei der Besetzung des 17-köpfigen Verwaltungsrats der Treuhandanstalt werden sie nicht berücksichtigt. Und die Forderung, eine neue, vom Volk gebilligte Verfassung für Deutschland auszuarbeiten, in der Volksbegehren und Volksentscheid, Recht auf Arbeit, Umweltschutz und kommunales Wahlrecht für Ausländer verankert sein sollen, die Heinz-Werner Meyer am 19. September auf einem Symposium des DGB erhebt, hat keine Chance zur Realisierung. Am Vorabend des 3. Oktober, des Tags der Deutschen Einheit, begrüßt der DGB-Bundesausschuss die Herstellung der deutschen Einheit und ruft nochmals zur Solidarität auf, um das vereinte Deutschland sozial zu gestalten.
Keine Fusion mit dem FDGB
Als die deutsche Einheit Gestalt gewinnt, stellt sich nicht mehr die Frage der Kooperation zwischen DGB und (reformiertem) FDGB, sondern die Frage des gewerkschaftlichen Zusammenschlusses.
Zunächst entsenden der DGB und die bundesrepublikanischen Einzelgewerkschaften Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die die Funktionäre des FDGB beim Umbau des Gewerkschaftssystems beraten. Dabei geht es zum einen um die Prinzipien einer unabhängigen Gewerkschaftsorganisation und um die Umwandlung der FDGB-Abteilungen in Einzelgewerkschaften, zum anderen um die Vorbereitung der Gewerkschafter auf die Bedingungen einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Außerdem leisten sie praktische Hilfe bei der Wahl und Einsetzung von Betriebs- und Personalräten.
Im Februar 1990 bilden die sechzehn Einzelgewerkschaften in Berlin, koordiniert durch den Berliner DGB-Landesbezirk, einen gewerkschaftlichen Regionalausschuss mit den Einzelgewerkschaften der DDR-Bezirke Berlin, Frankfurt/Oder und Potsdam. In mehreren Stufen intensiviert der DGB seine Präsenz in der DDR, vom Verbindungsbüro in Berlin bis hin zum Aufbau von Haupt- und Regionalbüros sowie zahlreichen Beratungsbüros.
Am 18. April 1990 kommt es zum Bruch mit dem FDGB, verspricht der DGB-Bundesvorstand doch „seine Hilfe zum Aufbau freier und unabhängiger Gewerkschaften in der DDR fortsetzen und intensivieren” zu wollen. Ziel sei die Schaffung einer einheitlichen deutschen Gewerkschaftsbewegung unter dem Dach des DGB, nicht aber ein Zusammenschluss der beiden Dachverbände. Mit Ablösung des bisherigen Vorstandes des FDGB durch einen Sprecherrat der FDGB-Einzelgewerkschaften am 9. Mai 1990 emanzipieren sich die Einzelgewerkschaften vom FDGB und machen den Weg frei zu einer „Gründungs- und Kooperationsoffensive”. Am selben Tag bekennt sich der DGB zum Ziel einer einheitlichen deutschen Gewerkschaftsbewegung unter dem Dach des DGB. Der 14. DGB-Kongress, der Heinz-Werner Meyer, bisher Vorsitzender der IG Bergbau und Energie (IGBE), als Nachfolger von Ernst Breit zum DGB-Vorsitzenden wählt, nimmt am 28. Mai 1990 einen Initiativantrag des Bundesvorstandes an, mit dem der DGB beauftragt wird, „alle Vorbereitungen zu treffen, mit denen sichergestellt werden kann, daß der DGB im Zuge des Vereinigungsprozesses der Mitgliedsgewerkschaften die Aufgaben des Dachverbandes in der DDR wahrnehmen kann. Dabei ist auszuschließen, daß der DGB die formale Rechtsnachfolge und die inhaltliche Verantwortung für die Politik des FDGB nach dessen Auflösung übernimmt.”