Wer einen Blick auf die gewerkschaftlich organisierten Mitglieder der Bundestagsfraktionen und auf die Parteizugehörigkeit von Gewerkschaftsführern wirft, könnte den Eindruck gewinnen, Gewerkschafter hätten großen Einfluss auf die Politik. Denn in der Tat: Es gibt eine starke personelle Verflechtung von SPD und Gewerkschaften.
Von den 115 gewerkschaftlich organisierten Bundestagsabgeordneten im 1. Deutschen Bundestag (1949) gehören 80 der SPD- und 22 der CDU/CSU-Fraktion an. 1953 sind 142 SPD- und 47 CDU/CSU-Abgeordnete Mitglied einer Gewerkschaft. Bis 1961 erhöht sich die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder im Bundestag auf insgesamt 223, von denen 179 in der SPD-Fraktion und 41 in der CDU/CSU-Fraktion sitzen. Doch bei den politischen Entscheidungen der 1950er/60er Jahre bestimmt nicht die Gewerkschaftsmitgliedschaft, sondern die Parteizugehörigkeit das Abstimmungsverhalten im Bundestag. Eine Ausnahme sind die Notstandsgesetze. In dieser Frage sind SPD und DGB-Gewerkschaften gespalten.
Auch zahlreiche Gewerkschaftsführer sind Mitglied des Parlaments. Die DGB-Vorsitzenden Walter Freitag und Willi Richter sind ebenso wie mehrere Vorsitzende von Einzelgewerkschaften Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion. Darüber hinaus sind die meisten Gewerkschaftsführer – von den DGB-Vorsitzenden Hans Böckler und Ludwig Rosenberg bis zu Otto Brenner von der IG Metall und Georg Leber von der IG Bau, Steine, Erden – Mitglied der SPD, oder sie stehen dieser Partei nahe. Zwar sind mit Maria Weber und Bernhard Tacke auch CDU-Mitglieder in der DGB-Spitze vertreten, dennoch wird die parteipolitische Neutralität der Gewerkschaften von kritischen Stimmen immer wieder in Frage gestellt. Die Gewerkschafter berufen sich aber darauf, dass parteipolitische Unabhängigkeit nicht bedeuten könne, auf politische Positionen zu verzichten. Dass diese in den 1950er/60er Jahren häufig mit den Positionen der SPD übereinstimmen, könne angesichts des gemeinsamen Engagements für soziale Fragen nicht verwundern.
Eng verflochten: Viele führenden Gewerkschafter sind Mitglied in der SPD, auch Otto Brenner und Georg Leber (r.)
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Die parteipolitische Unabhängigkeit ist jedoch nicht nur Anlass zur Kontroverse mit christlich orientierten Gewerkschaftern und Gewerkschafterinnen. Angesichts der Teilung Deutschlands und der autoritären Politik der SED, etwa während des Aufstandes am 17. Juni 1953, verschärfen sich auch die Konflikte mit den Kommunisten innerhalb der Gewerkschaften. Argwöhnisch verfolgen die Sozialdemokraten die Betriebs(rats)arbeit der Kommunisten, die vielfach Anerkennung findet. Sie befürchten, die Gewerkschaften sollen für die Kommunistische Partei instrumentalisiert werden und reagieren daher oftmals mit Ausgrenzung und Ausschluss von Kommunisten. Das Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) im Jahre 1956 wird von den Gewerkschaften jedenfalls nicht kritisiert. Maßgeblich für den gewerkschaftlichen Kurs zu Beginn der 1950er Jahre ist aber nicht nur die Ablehnung des Kommunismus, sondern vor allem das Eintreten für eine entschiedene Westbindung der Bundesrepublik.
Kampf um die Mitbestimmung
Die Gewerkschaften gehen davon aus, dass sich eine bundeseinheitliche Regelung der Betriebsverfassung an den bereits 1947/48 verabschiedeten Ländergesetzen orientieren wird. Nach dem Vorbild vor allem der Betriebsrätegesetze Süd-Badens und Hessens fordern sie für den Betriebsrat nicht nur Informations-, Beratungs- und Vorschlagsrechte, sondern gleichberechtigte Mitbestimmungsbefugnisse, und dies in sozialen, personellen und wirtschaftlichen Fragen. Außerdem hoffen sie, sie könnten – nach dem Modell der Montanindustrie – eine paritätische Besetzung der Aufsichtsräte in allen Großunternehmen durchsetzen. Auf dieser Linie liegt der am 22. Mai 1950 vom DGB publizierte Gesetzesvorschlag „Zur Neuordnung von Wirtschaft und Gesellschaft”.
Danach soll in allen Unternehmen mit mehr als 300 Beschäftigten oder mit mehr als drei Millionen DM Eigenkapital der Aufsichtsrat (bei Personalgesellschaften der zu schaffende Beirat) je zur Hälfte mit Vertretern der Anteilseigner und der Gewerkschaften besetzt werden. Außerdem soll das Modell des Arbeitsdirektors vom Montanbereich auf die anderen Großunternehmen übertragen werden. In Betrieben mit zwischen 20 und 300 Mitarbeitern sollen entsprechend zusammengesetzte Wirtschaftsausschüsse gebildet werden. Zur Verwirklichung der wirtschaftlichen Mitbestimmungsforderung sollen zudem die Industrie-, Handels-, Handwerks- und Landwirtschaftskammern paritätisch besetzt werden. Vorgesehen ist außerdem die Bildung eines Landwirtschaftsrats und eines Bundeswirtschaftsrats, in denen die Gewerkschaften ebenfalls vertreten sein sollen, als Beratungsgremien für Regierung und Parlament.
Die Arbeitgeberseite lehnt diese Forderungen entschieden ab: Für eine Neugestaltung der Unternehmensverfassung sei im Rahmen der deutschen Rechtsordnung kein Platz. Außerdem werde durch derartige Mitbestimmungsregelungen die Entfaltung der gerade wieder anlaufenden Wirtschaft gefährdet.
Der Regierungsentwurf vom 17. Mai 1950 bleibt denn auch weit hinter den gewerkschaftlichen Vorstellungen zurück. Mit dem Ziel einer etwaigen Angleichung der Positionen beginnen im Frühsommer 1950 Besprechungen zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften und Regierungsvertretern. Während bei der Frage der Bildung von Bundeswirtschaftsrat, Landwirtschaftsrat und auch Wirtschaftskammern eine Einigung in Reichweite rückt, weisen die Arbeitgeber eine paritätische Besetzung der Industrie- und Handelskammern und der Aufsichtsräte sowie wirtschaftliche Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte entschieden zurück.
Als diese Gespräche zu keinem für die Gewerkschaften annehmbaren Ergebnis führen, erklären DGB-Bundesvorstand und -ausschuss am 18. Juli 1950 die Verhandlungen für gescheitert und kündigen ihre Entschlossenheit an, zu gewerkschaftlichen Kampfmaßnahmen zu greifen. Auch Ende Juli 1950, in der ersten Lesung des Betriebsverfassungsgesetzentwurfs der Regierungsparteien, dem die SPD-Fraktion einen an den gewerkschaftlichen Vorschlägen orientierten Gesetzentwurf entgegenstellt, zeigt sich keine Annäherung der Positionen. Das gilt auch für die Ausschussberatungen, die dann im Herbst 1950 wegen der Debatte um die Montanmitbestimmung unterbrochen werden.