Durch die Vereinigung der ost- und westdeutschen Gewerkschaften wird die Frage nach einer Gewerkschaftsreform zunächst in den Hintergrund gedrängt. Aber schon nach wenigen Jahren wird die Forderung der Mitglieder und Funktionäre nach einer Reform wieder lauter. Die Arbeit des DGB müsse professioneller und effektiver werden, verlangen viele. Doch über das Wie sind sich DGB und Einzelgewerkschaften lange uneins. Nach komplizierten innerorganisatorischen Debatten beschließt der 14. DGB-Kongress 1994 dann eine Verkleinerung der Gremien und eine neue Aufgabenteilung zwischen Einzelgewerkschaften und Dachverband.
Zahlreiche Fusionen
Parallel zur Verschlankung der DGB-Organisation verhandeln mehrere Einzelgewerkschaften über mögliche Fusionen. Sie wollen auf diesem Weg, ihre Handlungsfähigkeit sichern und die Verwaltungskosten senken. Ab Mitte der 1990er Jahren schließen sich mehrere Gewerkschaften zusammen. Es entstehen in rascher Folge die IG Bauen – Agrar – Umwelt, die IG Bergbau – Chemie – Energie und die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Die Gewerkschaft Textil und Bekleidung und die Gewerkschaft Holz und Kunststoff schließen sich der IG Metall an. Mit den Fusionen werden Ungereimtheiten, die es seit jeher zwischen einigen Einzelgewerkschaften gibt, bereinigt. Doch einige können nicht gelöst werde. Sie bestehen bis heute fort. Außerdem wird im Rahmen der gewerkschaftlichen Fusions- und Sparpolitik der „Rückzug aus der Fläche“ vorangetrieben.
Die Mitglieder reagieren auf diese Fusionen sehr unterschiedlich. Viele beklagen, dass sie sich nicht mit ihrer neuen Gewerkschaft identifizieren können, bleiben aber dennoch Mitglied. Andere verlassen die DGB-Gewerkschaften, insbesondere diejenigen, die ihre Interessen besser in einem Berufs- oder Branchenverband aufgehoben fühlen. Die Vereinigung Cockpit (VC) für Piloten, die Unabhängige Flugbegleiter Organisation (UFO), die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) und der Marburger Bund für die angestellten Ärzte profitieren von dieser Entwicklung. Dank des hohen Organisationsgrades ihrer jeweiligen Berufsgruppe können sei eine offensive Interessenpolitik machen. Die Spaltung der Belegschaften wird dadurch vertieft.
Mitgliederentwicklung
Dank der Vereinigung mit den ehemaligen FDGB-Verbänden erleben die Einzelgewerkschaften zunächst einen Mitgliederzuwachs. Allerdings deutlich weniger als erwartet. Von den 9,6 Millionen FDGB-Mitgliedern bleiben nur 3,6 Millionen einer Gewerkschaft treu, die Zahl der DGB-Mitglieder klettert auf 11,5 Millionen im Jahr 1990. Doch dieser Höchststand hält nicht lange, die Mitgliederzahlen sinken schnell: Im Jahr 1998 zählt der DGB nur noch 8,31 Millionen Mitglieder. Auch die Zahl der gewerkschaftlich organisierten Frauen, die bis 1991 auf 3,9 Millionen (oder 33 Prozent) hochschnellt, geht rapide zurück. 1998 sind nur 2,53 Millionen Frauen organisiert, das entspricht einem Anteil an der Mitgliedschaft von 30,5 Prozent.
Ähnlich sieht die Entwicklung bei der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG) aus. Deren Mitgliederzahl steigt 1991 auf 584.775 an und geht dann bis 1998 kontinuierlich auf 480.225 zurück. Und auch die Zahl der Gewerkschafterinnen in der DAG erreicht 1991 mit 294.170 ihren Höchststand, um dann bis 1998 auf 266.257 zurückzugehen. Da vom Rückgang der Mitgliederzahlen Männer überproportional betroffen sind, steigt der Frauenanteil in diesem Zeitraum von 50,3 auf 55,4 Prozent.
Beim Christlichen Gewerkschaftsbund (CGB) hat die Vereinigung Ost und West kaum Auswirkungen. Die Mitgliederzahl bleibt in den 1990er Jahren bei um die 300.000, davon rund 75.000 (oder 25 Prozent) Frauen.
Der Mitgliederschwund hält in den folgenden Jahren an: Der DGB verliert zwischen 1999 und 2014 noch einmal fast zwei Millionen Mitglieder und hat mit 6,1 Millionen Betragszahlern 2014 weniger Mitglieder als vor der Wiedervereinigung. Auch die Zahl der gewerkschaftlich organisierten Frauen sinkt im selben Zeitraum von 2,4 Millionen auf gut zwei Millionen (Tabelle 1c Mitgliederentwicklung 1990 - 2015).
Durch den Zusammenschluss von FDGB- und DGB-Verbänden verändert sich die Struktur der Mitgliedschaft nicht grundsätzlich: 2004 ist das letzte Jahr, für das die Gewerkschaften die Mitgliederzahlen getrennt nach Arbeitern und Angestellten erhoben haben. Danach sind 2004 2.963.053 (davon 541.667 weiblich) Arbeiter, 1.729.426 (davon 955.882 weiblich) Angestellte und 419.999 (davon 140.108 weiblich) Beamte. Auch wenn für die folgenden Jahre keine statistischen Angaben vorliegen, wird man wohl sagen können, dass sich die Struktur der Mitgliedschaft in dieser Zeit nicht deutlich verändert hat. Noch immer sind Angestellte und Beamte in der Gewerkschaftsmitgliedschaft weniger vertreten, als es ihrem Anteil an der Erwerbsbevölkerung entspräche.
Defitize bei den Frauen
Auch im Hinblick auf die Organisation von Frauen besteht nach wie vor ein deutliches Defizit, auch wenn sich der Anteil von Frauen an der Mitgliedschaft in den DGB-Verbänden (und in der DAG) in den 1990er Jahren weiter erhöht. Aber immerhin gibt es im DGB-Bundesvorstand einige Frauen: Im Mai 1990 wird Ursula Engelen-Kefer zur stellvertretenden Vorsitzenden gewählt. Nach dem Tod Heinz-Werner Meyers übernimmt sie vorübergehend die geschäftsführende Leitung des DGB und wird dann 1994 zur Stellvertreterin Dieter Schultes gewählt. Mit Regina Görner gehört eine weitere Frau dem Geschäftsführenden Bundesvorstand an. Und 2014 werden Elke Hannack zur Stellvertreterin von Reiner Hoffmann und Annelie Buntenbach in den Geschäftsführenden DGB-Vorstand gewählt. Die Zahl der weiblichen Gewerkschaftsvorsitzenden ist noch „überschaubarer“: 1997 wird Eva-Maria Stange Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und Anfang 2000 Margret Mönig-Raane Vorsitzende der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV). Die Bereitschaft der Frauen, Mitglied in einer Gewerkschaft zu werden, erhöht sich dadurch nicht: Der Frauenanteil an der Gewerkschaftsmitgliedschaft wächst nur geringfügig von 30,4 Prozent (1999) auf 33,1 Prozent (2014). Tabelle 6 b Erwerbsstruktur
Das Ende der Gemeinwirtschaft
Seit Beginn der 1990er Jahre versteht sich die Beteiligungsgesellschaft für gemeinwirtschaftliche Unternehmen (BGAG) primär als Dienstleistungsunternehmen für die Gewerkschaften. Doch der Verkauf von Unternehmensanteilen geht weiter: 1991 verkauft die BGAG ihre Beteiligung an der Frankfurter Union Druckerei, 1993 die Volksfürsorge AG, 1998 die Büchergilde Gutenberg, 1999 die letzten Anteile der Bank für Gemeinwirtschaft, 2003 den Anteil an der Direktbank Diba und 2005 den Anteil am Beamtenheimstättenwerk. Bereits 1994 wird der Begriff der Gemeinwirtschaft aus dem Namen des Unternehmens gestrichen. Von nun an heißt es Beteiligungsgesellschaft der Gewerkschaften AG. Damit ist das Kapitel der Gemeinwirtschaft für die Gewerkschaften abgeschlossen.