Nach dem Scheitern der Wahl-Kampagne „Für einen besseren Bundestag” konzentrieren sich die Gewerkschaften auf ihr “eigentliches“ Arbeitsfeld, das der Tarif- und Sozialpolitik.
Das spiegelt sich am deutlichsten in dem am 29./30. März 1955 von Bundesvorstand und Bundesausschuss einstimmig verabschiedeten Ersten Aktionsprogramm des DGB zum 1. Mai 1955 wider. Darin sind die Schwerpunkte der Gewerkschaftsarbeit zusammengefasst: Sie fordern Lohnerhöhungen, eine Verkürzung der Arbeitszeit, die Verbesserung der sozialen Sicherheit und des Arbeitsschutzes sowie Sicherung und Ausbau der Mitbestimmung. Auf diesen Feldern verzeichnen die Gewerkschaften in den folgenden Jahren durchaus Erfolge – nicht zuletzt dank der guten wirtschaftlichen Entwicklung.
Erfolge in der Lohnpolitik
Eine wichtige Grundlage dafür ist aber auch das Tarifvertragsgesetz, das im April 1949 verabschiedet wird. Es garantiert den Tarifvertragsparteien die Tarifautonomie, sprich der Staat hat nicht das Recht, sich in Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften einzumischen.
Auf dieser Grundlage wird es in den 1950er Jahren selbstverständlich, dass sich Gewerkschaften und Arbeitgeber alljährlich zu einer Lohnrunde treffen. Und die sind in diesen Jahren für die Arbeitnehmer durchaus erfolgreich. Die Gewerkschaften sind bereit, die gesamtwirtschaftlichen Rahmendaten bei ihrer Lohnpolitik zu berücksichtigen, die Arbeitgeber können angesichts des Wirtschaftswachstums Zugeständnisse machen und die Arbeitnehmer am Produktivitätsfortschritt beteiligen. Vielleicht erhoffen sich die Arbeitgeber auch, durch ein Entgegenkommen in der Lohnfrage weitergehenden politischen Forderungen den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Lohnpolitik oder Vermögensbildung
Möglichkeiten und Grenzen der tariflichen Lohnpolitik sind in den Gewerkschaften durchaus umstritten. Auf der einen Seite steht der Leiter des den Gewerkschaften nahestehenden Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts (WWI) Viktor Agartz, der von einer „expansiven Lohnpolitik“ erwartet, sie werde Lebensstandard und Nachfrage erhöhen, Konjunktur und Vollbeschäftigung sichern und zugleich eine gerechtere Verteilung des Sozialprodukts erreichen. Unterstützung findet Agartz bei Otto Brenner von der IG Metall, der sich ebenfalls für eine „aktive Lohnpolitik“ ausspricht. Er geht davon aus, dass eine gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung nicht auf dem Boden des kapitalistischen Systems zu erlangen sei. Vermögensbildungsmaßnahmen seien also letztlich sinnlos. Demgegenüber meint Georg Leber von der IG Bau, Steine, Erden, gerade hier und jetzt müsse durch tarifliche Vermögensbildung eine Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen erreicht werden.
Die IG Bau, Steine, Erden verfolgt konsequent diesen Weg: Am 31. Dezember 1962 wird für die Bauindustrie ein Tarifvertrag abgeschlossen, der Sonderleistungen für organisierte Bauarbeiter vorsieht. 1965 werden dann für die Bauwirtschaft tariflich vermögenswirksame Leistungen vereinbart.
Bilanz der Lohnpolitik
Die Erfolge der gewerkschaftlichen Lohnpolitik können sich sehen lassen: Die Reallöhne steigen von 1956 bis 1960 durchschnittlich um 4,6 Prozent pro Jahr, in den folgenden fünf Jahren bis 1965 sogar um 5,3 Prozent. Die Erfolge der gewerkschaftlichen Lohnpolitik sind umso beachtlicher, als sie ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre von ersten Arbeitszeitverkürzungen begleitet werden, deren Kosten in allen Tarifverträgen auf die Steigerungsraten der Löhne angerechnet werden.
Schaut man sich die Lohnentwicklung etwas genauer an, so fällt erstens auf, dass sie – bis auf einige Ausnahmen – in keinem Jahr den vom Wachstum der Produktivität gesetzten Rahmen sprengt. Zum Zweiten ist es wohl mehr als ein Schönheitsfehler in der gewerkschaftlichen Lohnpolitik, dass die Unterschiede zwischen Männer- und Frauenlöhnen fortbestehen. Gerade die Lohnpolitik ist ein Prüfstein für die Ernsthaftigkeit, mit der die Gewerkschaften die auf dem Münchener Gründungskongress angekündigte Verwirklichung der Gleichberechtigung von Mann und Frau auf sozialem und wirtschaftlichem Gebiet verfolgen. Zwar beauftragt der DGB-Kongress 1954 die Gewerkschaften, die Lohn- und Gehaltsgruppen in den Tarifverträgen nur nach Tätigkeitsmerkmalen und nicht mehr nach Geschlechtern festzulegen sowie keinerlei Erläuterungen zuzustimmen, die eine Minderbezahlung weiblicher Arbeitnehmer zulassen. Doch in der Praxis wird das Problem durch die Einführung neuer „Leichtlohngruppen” umgangen. Die Masse der Frauen wird in diese Leichtgruppen eingruppiert.
Drittens: Die Gewerkschaften können in den Jahren der Vollbeschäftigung zwar die Reallöhne sichern. Ob allerdings der Verteilungsspielraum ausgeschöpft wurde, ist fraglich. Die übertariflichen Zahlungen, die in einzelnen Branchen eine durchaus nennenswerte Höhe erreichen, deuten darauf hin, dass noch höhere Lohnabschlüsse möglich gewesen wären.
Der Unterschied zwischen Tariflohn und tatsächlich gezahlten Löhnen führt zu Überlegungen, die Tarifpolitik betriebsnäher zu gestalten. Die Gewerkschaften erhoffen sich dadurch auch, die Beteiligung der Arbeitnehmer an der Gewerkschaftsarbeit zu verstärken. Doch die Tendenz zur Zentralisierung der Tarifkonflikte wird durch das Konzept der „betriebsnahen Tarifpolitik” nicht aufgehalten. Und die Selbstverständlichkeit, mit der die jährlichen Lohnrunden und Lohnerhöhungen stattfinden, trägt nicht dazu bei, das Engagement der Mitglieder für Lohnauseinandersetzungen zu stärken.
Und schließlich ist viertens nicht zu übersehen, dass sich das durchschnittliche Einkommen aus unselbstständiger Arbeit von 1950 bis 1960 zwar gut verdoppelt. Das aus selbstständiger Arbeit hingegen verdreifacht sich im selben Zeitraum fast. Berücksichtigt man den ständig steigenden Anteil der Arbeitnehmer an der Zahl der Erwerbstätigen, so ergibt sich ein Sinken der (bereinigten) Lohnquote von 58,4 Prozent (1950) über 54,1 Prozent (1955) und 53,6 Prozent (1960) auf 54,8 Prozent (1965).
Vor diesem Hintergrund gewinnen die Pläne zur Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand Bedeutung. Der von der Regierung 1961 mit dem 312-Mark-Gesetz beschrittene Weg und die Ausgabe von „Volksaktien” gelten bei der Mehrheit der Gewerkschafter als „Volkskapitalismus”, dem sie, so Bruno Gleitze, die Idee einer Vermögensbildung über große Fonds vorziehen, an denen die Arbeitnehmer Anteilscheine erhalten sollen. In der Tat: Weder durch das Vermögensbildungsgesetz von 1961 noch durch die Aufstockung des begünstigten Sparbetrages auf 624,– Mark mit Gesetz vom 30. Juni 1971 wird eine Veränderung der Verteilung des Produktivvermögens erreicht.